Peter Kurmann, Alain Villes, Notre Dame von Paris, wie soll es nach dem Brand weitergehen?

Als Auftakt zu der neuen gemeinsamen Vortragsreihe des Straßburger Münstervereins  und der Stiftung Unserer Lieben Frau (Fondation de l’Œuvre Notre-Dame) waren am Mittwoch dem 16. Oktober 2019 im Straßburger Münsterhof gleich zwei hochrangige Spezialisten eingeladen, sich zu dem Thema zu äußern.

Der Schweizer Kunsthistoriker Peter Kurmann, seit langen Jahren ausgewiesener Gotik-Spezialist (und Lehrmeister sowohl von Marc C. Schurr, dem Präsidenten des Münstervereins, als auch des zweiten Gastredners Alain Villes), stellte seine Sicht auf Notre Dame von Paris dar als ein maßgeblich von Viollet-le-Duc geprägtes neugotisches Restaurierungs-Kunstwerk des 19. Jahrhunderts. Ausgehend von seiner Beunruhigung über fantasievolle aber abwegige Pläne, über die derzeit diskutiert wird, und die auch mit den bedeutenden Geldmittel zusammenhängen, die aufgrund großzügiger Spenden für die Reparatur der Kirche zur Verfügung stehen, betont Kurmann die lange und komplexe Genese dieses Werks, das wie alle anderen Kathedralen auch nie nach ursprünglichen Plänen fertig gestellt worden war. Alle Teile des Gebäudes mit den im Laufe der Geschichte erfolgten Planänderungen und Zutaten bis zum Zeitpunkt des Brandes am 15. April 2019 sind zu respektieren. Dies betrifft insbesondere die Frage des Vierungsturms – für Kurmann eine architektonische Schöpfung Viollet-le-Ducs, die mit den anderen, mittelalterlichen Teilen des Gebäudes zusammen ein Ganzes bildet, das als Denkmal zu schützen bzw. wiederherzustellen ist (eventuell mit modernen Materialien), was auch der von Frankreich anerkannten internationalen Deontologie der Denkmalpflege entspräche.

Der zweite Vortrag von Alain Villes, Konservator des Musée d’Archélogie nationale, befasste sich mit dem Phänomen der Brände großer Kirchen, am Beispiel von elf französischen Kathedralen, an denen er beispielhaft und soweit bekannt die Ursachen, den Verlauf, die Diskussionen über und die tatsächlich durchgeführten Reparaturmaßnahmen darstellte. Von den 36 untersuchten Bränden sind 11 unbekannter Ursache (auch wenn in einzelnen Fällen Brandstiftung durch die Kanoniker selbst, die einen Neubau planten, nicht auszuschließen wäre), 11 wurden durch Blitzeinschlag ausgelöst, 7 durch Kriegseinwirkung, und 7 weitere beruhen auf menschlichem Versagen, auf Nachlässigkeit – wie im Fall von Notre Dame. Ebenfalls aufschlussreich ist der zeitliche Verlauf: viele Brände konnten gestoppt und unter Kontrolle gebracht werden, wenn spätestens 20 Minuten nach Ausbruch des Feuers eingegriffen wurde – was in Paris aus mehreren Gründen nicht der Fall war. Bei Großbränden ging immer der gesamte Dachstuhl verloren, aber die Mauern und oft auch die Gewölbe blieben erhalten, und eine Reparatur konnte häufig schnell erfolgen. Im Fall von Notre Dame wird der Eingriff erheblich erschwert durch das bei dem Brand geschmolzene moderne Gerüst, dass mit seinen 500 t stark auf dem Gemäuer lastet. Der Vorschlag von Villes geht dahin, den gut dokumentierten gotischen Vierungsturm, der von Viollet-le-Duc wegen Baufälligkeit abgetragen und durch seine eigene Schöpfung ersetzt wurde, wiederaufzubauen.

Beide Vorschläge wurden in der anschließenden Diskussion kommentiert, u. A. auf die Frage zugespitzt, ob es eine Neugotik des 21. Jhs. gäbe, und ob es sinnvoll sei, einen authentisch neugotischen Vierungsturm durch einen „regothisierenden“ Turm zu ersetzen. Als aktuelles Problem kam auch die Intransparenz der momentan in höchsten Regierungskreisen stattfindenden Überlegungen zur Sprache. Zur Beruhigung der Freunde des Straßburger Münsters muss gesagt werden, dass im Dachstuhl kurz vor der Jahrtausendwende zwei Brandmauern eingebaut wurden, und dass zwei Mal im Jahr Feuerwehrübungen stattfinden, um den hoffentlich nicht wieder auftretenden Ernstfall zu proben – Brände gab es schon mehr als 10 Mal in der langen Geschichte des Münsters, was einen traurigen Rekord im europäischen Vergleich darstellt.

Sabine Mohr
Ph. : ©SL / actu Paris

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