Auch der zweite Vortrag der Saison am 18. Oktober im Münsterhof war wieder sehr gut besucht. Der emeritierte Professor für mittelalterliche Geschichte Georges Bischoff sprach in Form eines Essays zum Thema Das Münster, der „crayon rose de la liberté“ D.h. der rosa – wegen der Farbe des Sandsteins – Stift – wegen der Form des hohen Turms – der Freiheit – wegen des Symbolgehalts des Münsters für die Stadt Straßburg – und auch als Wortspiel – das Münster als Instrument, mit dem Jahrhunderte hindurch in Straßburg Geschichte geschrieben wurde. In vielerlei Hinsicht sieht Bischoff darin eine Geschichte der Freiheit, oder der Befreiung. Aus Zeitgründen konnten die einzelnen Episoden nur andeutungsweise angesprochen werden. So wird sich diese Zusammenfassung auch auf eine stichpunktartige Aufzählung beschränken.
Nach dem Sieg der Straßburger Bürger über die Truppen des Bischofs 1262 übernahm die Stadtregierung auch die Organisation des Münsterbaus. Eine der Reiterstatuen aus dem 13. Jahrhundert an der Westfassade ist Kaiser Rudolf dem Ersten gewidmet, dem die Stadt ihre Reichsunmittelbarkeit, also ihre Freiheit von einem Landesherrn verdankt. Sie blieb freie Reichsstadt bis 1681, als sie unter französische Herrschaft kam. Das Münster mit seinem spektakulär hohen und schönen Turm wurde das Symbol der Stadt, das Symbol seiner Macht und der weithin sichtbare Stolz seiner Bürger. Bischoff betont in diesem wie auch in allen weiteren Zusammenhängen, dass das Sakrale auch Werten wie der – geheiligten – städtischen Freiheit innewohnt.
Die 1524 erfolgte Entscheidung des Magistrats, zur Reformation überzutreten, war ebenfalls ein Akt der Freiheit. Die Kanzel des Predigers Geiler von Kaysersberg als Vorläufer der Reformation wurde eines ihrer Symbole. Die Kanzel befindet sich im Mittelschiff des Münsters, im ‚bürgerlichen‘ Teil der Kirche, diesseits des Lettners, hinter dem das Domkapitel weiterhin katholische Gottesdienste zelebrierte. Das Münster wurde mit der Münsterpfarrei ein protestantisches Gotteshaus, unabhängig von bischöflicher Macht im kirchlichen Bereich. Die politische Macht hatte der Bischof schon im 13. Jahrhundert abgeben müssen.
Als die Stadt 1681 kapitulierte und dem französischen Königreich einverleibt wurde, wurde die Kathedrale wieder dem aus königlicher Sicht rechtmäßigen katholischen Glauben zugeführt. Doch darüber hinaus betrachtete die Monarchie das Münster als eine Trophäe. Das Gebäude als Symbol der Stadt, der Vitrine des französischen Königreichs an der Grenze zum Heiligen Römischen Reich, erlangte eine Bedeutung für die Geschichte Frankreichs insgesamt.
Der erste der Rohan-Fürstbischöfe ordnete die Zerstörung des Frieses mit den sogenannten „Thierbildern“ an, einem Relieffries aus dem 13. Jahrhundert mit profanierendem Charakter, der eine Beerdigungszene aus dem mittelalterlichen Epos ‚Reinhart Fuchs‘ oder dem ‚Roman de Renard‘ darstellte – Fuchs, Bär, Wolf, Schwein und Hase in kirchlichen Gewändern, laut Bischoff zu interpretieren als eine frühe Kritik der Prediger an den kirchlichen Würdenträgern, in unmittelbarer Nähe zum Chor. Sie waren vor ihrer Abtragung von Tobias Stimmer in einem Stich festgehalten worden, und als man die Druckplatten eineinhalb Jahrhunderte später wieder fand und neu herausgab, kam es auch da noch zu einem Skandal. Auf bischöflichen Befehl wurden die Drucke vor der Westfassade öffentlich verbrannt.
In der Zeit der Französischen Revolution wurde das Münster zum nationalen Symbol, unter dessen Schirm wichtige Ereignisse wie das Straßburger Föderationsfest 1790 stattfanden. Wie der Schwörtag in den Zeiten der freien Reichsstadt fanden die patriotischen Verfassungsschwüre vor der Westfassade statt. Die Besichtigung wurde allen erlaubt, auch Protestanten und Juden. 1792 verfasst der deutsche Jokobiner Eulogius Schneider einen Dialog zwischen den Türmen des Straßburger und des Freiburger Münsters, in dem der Straßburger die Werte der republikanischen Freiheit vertritt.
1793 kam es zu Vandalismus, dem viel Bauschmuck zum Opfer fiel. Auf Antrag des Jakobiners Vallée, der nie nach Straßburg gekommen war, sollte der hohe Münsterturm niedergelegt werden. Der Straßburger Magistrat widersetzte sich diesem Anliegen, und es ist dem mutigen Eingreifen zweier Straßburger in Paris zu verdanken, dass der Beschluss wieder rückgängig gemacht wurde – mit dem Argument, der hohe Turm sei ein weithin sichtbares Symbol der Republik. Die phrygische Mütze aus Blech, die man der Turmspitze aufsetzte, war noch bis 1870 im Museum zu bewundern.
Im 18. Jahrhundert bezeichnet Diethelm das Münster als „europäisches Kunst- und Wunderwerk“. Es wurde auch als achtes Weltwunder gerühmt. Goethe hatte zwanzig Jahre vor der Revolution seine entscheidende Begegnung mit dem Bauwerk, das er als die Verkörperung des deutschen Genies interpretierte. Nun wurde es zum französischen Monument schlechthin. In einem Klima der nationalen Bedrohung während der Revolutionskriege wurde die Kathedrale 1793-4 zeitweise zum Tempel der Vernunft, in dem jedoch auch Kunstwerke ausgestellt wurden. Schließlich installierte man 1798 einen Telegrafenmast von Chappe auf dem Vierungsturm – das Münster wurde zum Träger eines modernen Kommunikationssystems.
Während der Annexion durch das deutsche Reich 1871 bis 1918 erfuhr das Münster eine erneute Reinterpretation: ‚verletzt‘ durch die Bombardierungen und ‚gefangen‘ von einer feindlichen Macht, auf die ‚Befreiung‘ durch das französische Vaterland wartend. Als Ikone präsent in den Häusern aller frankophilen Elsässer, die ihre Heimat verlassen hatten, und generell bei allen der Revanche harrenden Kräfte jedweder politischen Orientierung. 1918 wird die Kathedrale zur Metonymie des wiedergefundenen Elsass‘, Heimstatt der Marseillaise, und von Frankreich insgesamt.
Nach einem glühend patriotischen Jubiläumsfest 1939, der 500-Jahrfeier zur Vollendung des Turms der ‚französischen‘ Kathedrale, ein erneuter Umschlag: es kam zu der monatelangen Evakuierung der Stadt und schließlich zur Annexion durch das Dritte Reich im Juni 1940, infolgedessen das ‚deutsche‘ Münster symbolisch im Zentrum der Germanisierungspolitik stand. Auch in der Ikonografie der Autonomisten spielte das Gebäude eine tragende Rolle.
Zeitgleich machte sich der französische Widerstand das Gebäude als Symbol zu Eigen. Nicht nur im ‚Schwur von Kufra‘ – Leclerc setzte sich die Befreiung Straßburgs zum Ziel – sondern auch bei den von der Gestapo verfolgten Mitgliedern der Universität Straßburg, die sich in Clermont-Ferrand niedergelassen hatte: man hat dort in einer Folterzelle die Silhouette des Münsters als Graffiti gefunden, Symbol der Hoffnung auf eine wieder zu erlangende Freiheit.
Während der Straßenkämpfe 1944 gelang es dem Soldaten Maurice Lebrun in einer überaus mutigen und riskanten Aktion die Trikolore auf der Spitze des Münsterturms anzubringen. Nicht als Triumpf im Feindesland, sondern als Symbol der Befreiung der Stadt. Diese Fahne wird im historischen Museum aufbewahrt und kann als eine Reliquie angesehen werden.
Seit der Nachkriegszeit spielt Straßburg als europäisches Zentrum eine Rolle, und das Münster dient wieder als symbolischer Ort. Das vom 1949 hier gegründeten Europarat gestiftete Glasfenster im Chorscheitel zeigt die Madonna mit ausgebreiteten Armen, dem alten Stadtsymbol, umgedeutet in eine moderne Schutzmantelmadonna für Europa.
Seither ist die politische Rolle der Kathedrale weniger eindeutig. Hin und wieder diente der Turm als Fahnenträger für militante Gruppen: z.B. Umweltschützer, Tibetaner, Autonomisten. Georges Bischoff erwähnt sein liebstes persönliches Erlebnis: einen spontanen Karneval des „Musauer Wackes“ 1971, ein buntes fröhliches Treiben rund um das Münster. Nächstes Jahr 2024 wird Straßburg Welthauptstadt des Buches und schreibt so weiterhin Geschichte. Auf dem Logo ist das Münster zu erkennen. Weit über seine religiös-institutionelle Funktion hinaus war und ist dieses Bauwerk in den wechselnden Zeitläuften ein politisches Symbol – als Thema weitgehend ein Desiderat der Forschung. Georges Bischoff betont abschließend, dass dies in einem außergewöhnlichen Maße der Fall ist, in Frankreich einzigartig, mit einer so reichen und komplexen politischen Geschichte, wie selbst Notre Dame von Paris sie nicht gekannt hat.
Sabine Mohr
Ill.: Olive Titus ; Txllxt TxllxT