Isabelle Chave, Das Werk unserer Lieben Frau: ein europäisches Projekt zum Thema immaterielles Weltkulturerbe

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Vor einem zahlreichen Publikum im Straßburger Münsterhof fand am 16. Januar 2019 ein weiterer, gemeinsam vom Straßburger Münsterverein (Amis de la Cathédrale) und vom Werk unsere Lieben Frau (Oeuvre Notre Dame) organisierter Vortrag statt. Die leitende französische Denkmalpflegerin Isabelle Chavé stellte ein europäisches Projekt vor, an dem das Werk unserer Lieben Frau als eine der beiden ununterbrochen seit dem Mittelalter aktiven Münsterbauhütten – die zweite ist die von Freiburg – in Europa beteiligt ist. Bevor sie auf die Sonderstellung des Frauenwerks einging, präsentierte sie einen Rückblick zum Thema des immateriellen Kulturerbes und der allgemeinen Bedingungen zur Anerkennung als solches durch das französische Kultusministerium, im Anschluss an die Ratifizierung 2016 der sechsten UNESCO-Konvention von 2006.

Der erste Schritt zur Aufnahme in das nationale Register des immateriellen Kulturguts war die Erstellung eines Merkblatts, das den strengen UNESCO-Kriterien entspricht und auf der Befragung von 47 Personen, darunter 33 Mitgliedern des Frauenwerks, nach einem in Zusammenarbeit mit dem Straßburger Ethnologieprofessor Roger Somé entwickelten Fragebogen beruht. Die Merkblätter sind auf der Website des Kulturministeriums allgemein zugänglich und können auch online kommentiert werden. Das Werk unserer lieben Frau wurde umfassend beschrieben: hinsichtlich seines juristischen Status‘ und seiner gesellschaftlichen Einbindung, also seinem Verhältnis zu Staat und Kirche, zu den  Bürgern der Stadt allgemein und dem Vereinswesen im Besonderen (siehe Münsterverein!), der weiterhin bestehenden Praxis von Schenkungen und Vermächtnissen, der schriftlichen Dokumentation in den Archiven (besonders die Bauzeichnungen, aber auch die einmalige Sammlung von Gipsabgüssen), die Handarbeit am Stein als Besonderheit der Straßburger Münsterbauhütte, alle Berufszweige und die damit verbundenen Aspekte der Weitergabe in Form von Ausbildung, aber auch Aktionen zur Sensibilisierung des breiten Publikums. Besonderen Stellenwert haben neben den tradierten Praktiken das Bemühen um Innovation in allen Bereichen sowie die starke Bindung, das große Interesse der Öffentlichkeit an das Gebäude, die sich zum Beispiel an den zahlreichen Neuauflagen des Buches „La grâce d’une cathédrale“ ablesen lässt.

Das wegen der historischen Sonderstellung Straßburgs (und obwohl es die einzige französische Münsterbauhütte ist) von Frankreich getragene europäische Projekt hat zum Ziel, gemeinsam in das „Register guter Praxisbeispiele“, eine der drei möglichen Kategorien des immateriellen kulturellen Erbes, aufgenommen zu werden. Was die 18 an dem Projekt beteiligten Münsterbauhütten in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Norwegen unterscheidet, sind ihre  Eigenheiten: verschiedene innere Organisationsformen, Status (staatlich, städtisch, kirchlich, usw.), Zahl und Qualifizierung der Mitarbeiter, deren Status, verwendete Materialien, Werkzeuge, Existenz und Pflege der Dokumentation, usw. Was sie verbindet ist ihre ursprüngliche Entstehung aus der Notwendigkeit heraus, sich gemeinsam materiell, organisatorisch und auch ideell zu organisieren, um eine große Kirche, eine Kathedrale zu bauen, d.h. zu finanzieren, zu planen, zu errichten, zu erhalten, zu renovieren usw. Für die UNESCO kommt, neben der allgemeinen Bedingung, den Prinzipien von Nachhaltigkeit und Menschenrechten zu entsprechen, die Frage der Beispielhaftigkeit dieser Organisationsform, ihre eventuelle Übertragbarkeit auf andere Länder und Aufgaben hinzu. Das Projekt, das Anfang Februar vorgestellt werden wird, hat sogar ein eigenes Emblem: eine aus verschiedenen Materialien und in unterschiedlichen Formen zusammengesetzte Fiale als Emblem der gotischen Baukunst, wie sie die europäischen Münsterbauhütten prägte.

Sabine Mohr

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