Als 4. Gastredner der Vortragsreihe des Münstervereins (« Amis de la Cathédrale ») sprach diesen Mittwoch den 15. Februar Professor Peter Kurmann, aus Fribourg in der Schweiz, zum Thema der Stellung des Langschiffs des Straßburger Münsters. Der eminente Spezialist für gotische Architektur und Bildhauerei bot den Versuch einer Synthese der baulichen Eigenheiten und des bildlichen Schmucks, in Skulptur und Glasmalerei, auch in Hinblick auf Vorbilder und Konkurrenzbauten des 13. Jahrhunderts, hinsichtlich stilistischer, baugeschichtlicher sowie auch historischer Fragestellungen.
Eines der auffälligen Merkmale des Straßburger Münster – seine deutliche Gliederung in stilistisch unterschiedliche Teile, die vom spätromanischen Chor im Osten, über das hochgotische Langhaus bis hin zum Westbau immer stärker in die Höhe streben – rechtfertigt die Fokalisierung der Untersuchung auf diesen einen Bauteil: das Schiff des Münsters als Laien- d.h. Bürgerkirche, bis 1682 durch einen gotischen Lettner abgegrenzt von der Domkapitel- und Bischofskirche in Vierung und Chor, präsentiert sich als eine großartige Durchführung des vom Langhaus der Abteikirche von Saint-Denis vorgegebenen Themas, als eines der Meisterwerke der französischen gotischen Architektur.
Der hochgotische Rayonnant-Stil wirkt in Straßburg allerdings weniger zerbrechlich, da die hiesigen Baumeister die Maße der dortigen Vierungspfeiler und nicht die der schmaleren Arkadenpfeiler übernommen haben. Die dreizonige diaphane Wandgliederung mit Arkaden, Triforium und Obergaden scheint sich erst in einem zweiten Planungsschritt durchgesetzt zu haben, da man wohl ein weniger hohes Schiff plante. Die drei östlichen Joche wurden vermutlich um das Jahr 1250 (+/- 5) begonnen (das Datum kann nur vergleichend und interpretierend erschlossen werden), zeugen von hoher baulicher Qualität und tragen reichen Bauschmuck, wobei die großplastischen Elemente allerdings weit von den Höchstleistungen des südlichen Querhauses (um 1235) entfernt sind.
Hochwertige und sehr zahlreiche Bildhauerarbeiten findet man in den Zwickelfeldern der Blendarkaden an den Seitenschiffwänden, ein Ausnahmephänomen in Kontinentaleuropa. Nach einer Bauunterbrechung um das Jahr 1262 herum (in einem militärischen Konflikt setzte sich die Bürgerschaft gegen den Bischof durch, dem darauf die Bauleitung ab 1290 vollständig entglitt) errichtete man die drei westlichen Langschiffjoche, mit weniger breiten Arkaden (8,20 m statt 8,80 m) und weniger Bauschmuck, aber ansonsten gleich strukturiert, wobei allein die Gewölbefertigstellung 1277 eindeutig dokumentiert ist.
Die Gesamtheit der ikonografisch außergewöhnlichen gotischen Glasmalereien thematisieren einerseits höchst ausführlich die Rolle der Kirche als einer Heilsinstitution, mit Figuren aus dem Alten und dem Neuen Testament sowie Märtyrern, Diakonen usw. Andererseits die Garantenrolle der deutschen Könige und der Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, die ganzfigurig dargestellt sind und z.T. aus der romanischen Vorgängerbasilika übernommen wurden, wenn auch in „moderne“ gotische Architekturdarstellungen eingebunden. Diese materielle Übernahme und die ikonografische Betonung der Verbindung der Straßburger Kirche – mit ihrem hochadeligen Domkapitel – mit dem Reich, findet ihre architektonische Entsprechung in einer gewissen Traditionsverbundenheit, trotz Einführung moderner Stil- und Strukturelemente: die Beibehaltung der romanischen Choranlage, die auffällige Übernahme der Grundrissmaße des Vorgängerbaus in Breite und Länge sowie der stark abgegrenzte Westbau, der das romanische Westwerk einschließt.
Diese Dualität zwischen Modernität – auch in Konkurrenz um das größte Prestige zu dem Kölner Dom – und Tradition führt Peter Kurmann zu der These, die Bauherren könnten dieses Langhaus und insgesamt das Münster als ein „Saint-Denis des Heiligen Römischen Reichs“ konzipiert und postuliert haben. Der dynastischen Rolle als Grablege für das französische Königtum der Abteikirche bei Paris entspräche die führende Rolle des Straßburger Münsters, das anders als der ganz homogen hochgotische, 1248 begonnene Kölner Dom die altehrwürdigen Bauformen des Reichs in gewisser Weise tradiert und sich gleichzeitig die Wirkungsmöglichkeiten der zeitgenössischen französischen Vorreiterarchitektur zu Eigen macht.
Sabine Mohr