Ilona Dudziński, Das Portal des südlichen Querhauses des Straßburger Münsters

Auch der letzte Vortrag (13.6.2018) der ersten gemeinsamen Vortragseihe 2017-2018 von Münsterverein und Liebfrauenstift (Fondation de l’Œuvre Notre-Dame) fand wieder im voll besetzten Saal des Münsterhofs statt. Bei der Begrüßung lud die österreichische Generalkonsulin Erika Bernhard als Mitveranstalterin alle Teilnehmer zu einem anschließenden Umtrunk ins Generalkonsulat ein. Der Hauptvortrag der auf mittelalterliche Bauten spezialisierten deutschen Bauforscherin Ilona Dudziński (Dr.-Ing.) wurde eingerahmt von dem einführenden Beitrag von Sabine Bengel, Kunsthistorikerin der Liebfrauenstiftung, und den ergänzenden Erklärungen von Marc Carel Schurr, Präsident des Münstervereins und Professor für Kunstgeschichte an der Universität von Straßburg. Im Bulletin wird ein erweiterter Aufsatz mit den vollständigen Ergebnissen der Bauforschungsstudie veröffentlicht werden.

POLYCHROMIE

Die von Frau Dudziński (zu diesem Zeitpunkt wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektleiterin an der Universität Innsbruck) durchgeführte Studie wurde finanziert von der Tiroler Wissenschaftsförderung (TWF). 2015 aus Anlass der Tausendjahrfeier der Grundsteinlegung des Münsters vom Liebfrauenstift angeregt, wurde die bauarchäologische Untersuchung im Sommer 2017 durchgeführt. Die dafür einmalige Gelegenheit ergab sich durch das Vorhandensein von Gerüsten am Südquerhaus außen und innen. Als Grundlage der Untersuchung dienten existierende photogrammetrische Pläne, welche Stein für Stein von Hand ergänzt wurden mit Informationen zur Steinbearbeitung, Steinschnitt und Bautechnik. Ziel der Studie war es, die seit Jahrzehnten diskutierte Frage zu klären, ob es beim Bau des Straßburger Südquerhauses – an dem der Übergang von der Spätromanik zur Frühgotik deutlich zu erkennen ist – wie mehrfach vermutet zu einer mehr oder weniger radikalen Planänderung gekommen war, bzw. welche klar unterscheidbaren Etappen in der Bauplanung und -ausführung festzustellen sind. Dabei ging es vor allem um die zeitliche und bautechnische Einbindung der beiden (noch original vorhandenen) Tympana sowie der zum Teil ergänzten Türstürze (insgesamt vier Szenen aus dem Marienzyklus: Marientod, Grabtragung, Mariae Himmelfahrt und Marienkrönung), sowie der in der Revolution weitgehend zerstörten Monumentalplastiken (d. h. Apostel an den Gewänden und König Salomon mittig vor dem Portal), also von Bauskulptur im antikisierenden frühgotischen Stil, in ein Portalensemble, das strukturell und in seinen architektonischen Formen der Spätromanik angehört. Es handelt sich, besonders auch mit den beiden Statuen von Ecclesia und Synagoge (Originale im Liebfrauenmuseum), um ein ikonografisch und in seiner bildhauerischen Qualität außergewöhnliches Ensemble, das schönste Beispiel frühgotischer Bildhauerei im deutschsprachigen Raum, das bedeutenden Einfluss auf die weitere Entwicklung der gotischen Kunst hatte.

Die bauarchäologischen Ergebnisse bezüglich der Portalzone sind spektakulär. Sie wiederlegen die in der Forschung verbreitete These einer radikalen Planänderung mit vermutetem Austausch des gesamten Personals der Münsterbauhütte durch ein aus der Ile de France oder Burgund kommendes Team, das in Straßburg die Gotik eingeführt hätte. Werkzeugspuren, angewandte Bautechniken, Zusammensetzung des Mörtels, sowie überhaupt die einzelnen Bauschritte, die zu erkennen sind, alles deutet auf eine in der Konzeption komplexe, im Detail sich mehrfach verändernde, dennoch kontinuierlich und mit demselben Personal und denselben Techniken fortschreitende Arbeit an der Portalzone hin, deren grundlegende Struktur beibehalten wird. Schon vorhandene architektonische Elemente werden weitgehend „geschont“, wenn es darum geht, später hinzugeplante Elemente, namentlich die substanzielle Erweiterung des ikonografischen Programms in Form von Gewändestatuen und Reliefplastik, in das bereits Bestehende einzufügen. So ließ man am linken Portal die Gewändekapitelle intakt, sägte den Türsturz unterhalb der auskragenden Baldachin-Arkatur waagerecht entzwei, sodass der weniger tiefe Teil des Steins (mit den Reliefszenen) von oben hinter den Kapitellen vorbei vor das schon bestehende Mauerwerk eingeschoben werden konnte. Gleichzeitig arbeitete man die beiden Kämpfer so ab, dass der obere Teil des Sturzes mit der Baldachin-Arkatur eingefügt werden konnte. Am rechten Portal hingegen wurden die entsprechenden Arbeiten zur Anpassung an den veränderten Plan nicht in situ, sondern schon in der Bauhütte durchgeführt, wie an der technischen Qualität der Ausführung der Veränderungen abzulesen ist. Die beiden Tympana wurden darüber angebracht, sie sind wesentlich größer als die ursprünglich geplanten, aber die im Originalzustand vorhandenen Fugen rundum sind relativ breit, da man den inneren Wulst der schon ausgeführten Bögen abarbeitete, um nachträglich Platz zu schaffen. Bautechnisch interessant ist die Verwendung von Eisenplättchen in den Fugen, wo gemeinhin weitaus günstigeres Material wie kleine Steinchen, Schiefer- oder Holzplättchen verwendet wurden. Unter den beiden Tympana wurden Bleiplättchen positioniert, um den Stein beim Versetzen vor Ausbrüchen zu schützen.

Fazit der Bauforschung: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, keine abrupte Ablösung der Romanik durch die Gotik, Integration von Elementen, die neuen Tendenzen entsprechen, in schon Vorhandenes, flexible Planentwicklung und Anpassung, nicht radikaler Bruch. Aus kunsthistorischer Sicht betont Marc Schurr in seinem ergänzenden Vortrag die politische Dimension des Streits um Bruch oder Kontinuität, Gotik vs. Romanik, einer Polemik, die eng mit der Geschichte der kunsthistorischen Lehre überhaupt und mit der Forschung an der Universität Straßburg insbesondere verbunden ist. So trug Wilhelm Vöge zu der differenzierenden Beschreibung der Unterscheidung zwischen Romanik und Gotik bei, seine Veröffentlichung zum Thema der französischen Monumentalplastik wurde auch in Frankreich gut aufgenommen. Der wichtigste deutsche Kunsthistoriker seiner Zeit, Georg Dehio, publizierte Wesentliches zur Genese der deutschen Gotik unter Einfluss der französischen Kunst. Einer seiner Schüler, Karl Franck, promovierte über die Straßburger Kathedralplastik und deren Abhängigkeit von der französischen Skulptur. Doch im Anschluss an die Zerstörungen im ersten Weltkrieg erschien in den Forschungen zu den Einflüssen zwischen Frankreich und Deutschland in der mittelalterlichen Kunst eine ideologische Dimension. Vertreter beider Länder würdigten die Kunst des anderen herab. Schurr spricht von einem entwürdigenden Kapitel der Kunstgeschichte. Noch dazu bei einer geopolitischen Faktenlage, die die Kategorien „Deutschland“ und „Frankreich“ als für das beginnende 13. Jh. anachronistisch und deshalb fragwürdig erscheinen lassen. Noch dazu suchte man in Straßburg umsonst nach einem historischen Ereignis, das einen Austausch der gesamten Bauhütte plausibel machen würde, infolge dessen ein radikaler Stilbruch die Übernahme neuer französischer Bildformen initiiert hätte.

Sabine Mohr
Ill. : Fondation de l’Œuvre Notre-Dame

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