Marc C. Schurr, Erwin von Steinbach – Mythen und Wirklichkeit

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Bust von Erwin von Steinbach im Walhalla, Landolin Ohmacht

Am 10. Oktober fand im vollbesetzten Saal das Münsterhofs die erste Veranstaltung der gemeinsamen Vortragsreihe 2018-2019 des Münstervereins und des Werks Unserer Lieben Frau (Œuvre Notre Dame) satt. Der Vorsitzende des Münstervereins Prof. Dr. Marc Carel Schurr beleuchtete die Figur des berühmten Erwin von Steinbach, dessen Leben und Tätigkeit in der Straßburger Münsterbauhütte nur zum Teil dokumentarisch belegt sind, der aber im Straßburger Volksmund seit Langem als der geniale mittelalterliche Architekt schlechthin gilt. Man schrieb ihm den Bau der Westfassade samt Turm, ja des ganzen Münsters zu. Diese Vorstellungen beruhen zum Teil auf den begeisterten Schriften des Johann Wolfgang Goethe, dem sich als jungem Studenten das Straßburger Münster als geniale Schöpfung eines von allen akademischen Fesseln freien, künstlerisch selbstbestimmten Baumeisters offenbarte. Er stilisierte ihn zu einem Leitbild des Sturm und Drang („Von deutscher Baukunst“, 1773). Nach Auffindung der originalen Münsterbaupläne von Köln (1810) erhob derselbe Goethe die Erfindung der gotischen Baukunst zum Inbegriff des Genius der deutschen Nation, in Abgrenzung u.a. zu den Franzosen. So trug er mit anachronistischen Argumenten zum Entstehen einer nationalistisch motivierten Kunstgeschichte bei. Desgleichen weist der Nazarener Overbeck dem deutschen Genie Erwin einen prominenten Platz in seinem Gemälde „Der Triumph der Religion in den Künsten“ (1840) zu. Andererseits zirkulieren lokale Legenden über den Familienvater Erwin, der insbesondere mit seiner Tochter, der Bildhauerin Sabine, in der Münsterbauhütte tätig gewesen sei.

Wie steht es aber um den historischen Erwin, genannt „von Steinbach“? Man kennt die Grabstele seiner Familie von 1318, auf dem kleinen Friedhof hinter dem Münsterchor. Die Inschrift „Magister Ervinus, Gubernator Fabricae Ecclesiae Argentinensis“ belegt allerdings nicht eindeutig sein Amt als Baumeister, sondern eher als Verwalter der Bauhütte. Das erste schriftliche Zeugnis stammt aus dem Jahre 1284, es ist eines von fünf Dokumenten, auf denen er genannt wird, doch sein Name wurde zu einem unbekannten Zeitpunkt eingefügt. Ein Stein des zerstörten Tabernakels des Marienaltars (von 1262, ursprünglich seitlich im Langhaus) trägt ebenfalls seinen Namen mit dem uneindeutigen Attribut „Magister“. Das einzige Dokument, das zweifelsfrei mit dem Architektenamt in Beziehung gebracht werden kann, ist die Grabplatte seines Sohnes, die sich in Niederhaslach erhalten hat: darauf sieht man eine männliche Gestalt mit den Attributen des Architekten, während die umlaufende Inschrift diesen als „Magister operis“ von St. Florian in Niederhaslach, Sohn des Erwin, „Magister operis“ der Straßburger Kirche bezeichnet. Alle Belege zusammen ergeben das Bild eines Architekten, der schon vor 1284 (wohl ab Ende 1280) als Architekt in Straßburg tätig war, zeitweise auch die Münsterbauhütte leitete und 1318 verstarb.

Doch mehrere Fragen bleiben offen: Woher stammt die Herkunftsbezeichnung „von Steinbach“, die in keinem mittelalterlichen Dokument auftaucht? Eine Inschrift an einem der Westportale, die im 15. Jh. von dem Chronisten Koenigshoffen noch nicht verzeichnet wurde, im 16. Jh. zu sehen, Anfang des 18. Jh. aber verschwunden war, soll dieses Toponym enthalten haben. Möglicherweise könnte sie in Ölfarbe gemalt gewesen sein, wie z.B. eine noch erhaltene Inschrift am Tympanon von Saint Pierre-Saint Paul in Wissembourg, was ihr spurloses Verschwinden erklärte. Aber stammte diese Inschrift wirklich aus dem 13. Jh.? Oder war es eine spätere, auf mündlicher Überlieferung beruhende Zutat? Bleibt außerdem die Frage der Urheberschaft von Plan A und Plan B, die jeweils Erwin zugeschrieben wurden, da sie aus der Zeit seiner Aktivität in Straßburg stammen. Beide Fassadenaufrisse beruhen auf zwei unterschiedlichen geometrischen Grundlagen: Plan A, wie auch die ausgeführte Westfassade, benutzen das Dreieck als Grundform, während die Struktur von Plan B aus dem Achteck entwickelt ist. Vielleicht musste für die hiesige Bauhütte, die an die Triangulation gewöhnt war, ein auswärtig erarbeiteter Plan angepasst werden? Die Frage, ob beide von derselben Hand stammen oder nicht, muss offen bleiben, denn die Bauhütten hatten Kontakt untereinander. So erscheint eine einfachere Form des berühmten und einmaligen architektonischen Merkmals der Straßburger Westfassade – ihre Harfenbespannung, d.h. das vor die Mauer gespannte Maßwerk – in Plänen für die Obergadenwände der Metzer Kathedrale. Der Bischof von Straßburg seit 1280, Konrad von Lichtenberg, wie auch sein Bruder Friedrich, der Dekan des Hochstifts, waren Vasallen des Bischofs von Metz. Sollten sie verantwortlich sein für die Berufung eines neuen Architekten aus der mit allen Neuerungen der Ile de France vertrauten Bauhütte von Metz, der diese Pläne kannte und die Idee mit nach Straßburg brachte? Könnte dieser unbekannte, mit dem Oktogonalprinzip (Plan B) arbeitende Architekt, identisch sein mit Erwin? Kam dieser aus dem Dorf Steinbach, das in Lichtenbergischem Besitz war? Mit dieser Hypothese schloss der Vortrag, der natürlich keinen Schlussstrich setzt unter die Legenden, aber ausführlich sowohl mit den gesicherten Erkenntnissen als auch mit den Desiderata zu Erwin aufwartete.

Sabine Mohr

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