In dem zweiten, vom Straßburger Münsterverein und dem Werk Unserer Lieben Frau (Fondation de l’Œuvre Notre Dame) organisierten, wie immer sehr gut besuchten Vortrag am Mittwoch dem 14. November 2018 im Saal des Münsterhofs ging es um die Person und das Werk des bedeutenden Architekten Gustave Klotz, nach dessen Entwurf nach langem Ringen der heutige Vierungsturm erbaut wurde. Der Straßburger Lehrbeauftragte für Kunstgeschichte, Dr. Hervé Doucet, stellte das Schaffen dieses Architekten vor, der zwischen 1837 bis zu seinem Tod 1880 unter anderem als Architekt der Münsterbauhütte (Oeuvre Notre Dame) in Straßburg tätig war und als solcher bedeutende Baumaßnahmen am Münster durchführte. Die Originalität des Vortrags bestand darin, die Arbeit von Gustave Klotz in Beziehung zu setzen zu zwei andern maßgebenden französischen Architekten seiner Zeit, Henri Labrouste und Eugène Viollet-le-Duc. Labrouste war seinerzeit berühmt und geschätzt, zunächst als Theoretiker und Leiter eines „freien“, der Pariser Ecole des Beaux-Arts angegliederten Ateliers, das auf Initiative von acht jungen Architekturstudenten 1830 eingerichtet wurde – darunter der junge Gustave Klotz. Diese Gruppe von innovativ eingestellten jungen Studenten schätzte die Herangehensweise Labroustes an die klassische antike Architektur. Es ging ihm darum, die Bauweise und die Funktion dieser Baudenkmäler zu analysieren. Daraus ergab sich keine Imitation des Klassischen, sondern die Tendenz einer rationalistischen Architektur (nicht zu verwechseln mit dem späteren, italienischen Rationalismus ab ca. 1920). Die Form sollte sich aus der Funktion herleiten, und sich der neu verfügbaren Materialien bedienen. Labrouste verwirklicht dieses Prinzip in der vielkopierten Pariser Bibliothèque Sainte-Geneviève (1843-1850), die auch einen Abglanz in dem großen Saal der Straßburger Aubette findet (1874 erbaut von dem städtischen Architekten Jean-Geoffroy Conrad).
Klotz war nur ein Jahr lang Schüler von Labrouste, bevor er 1831 bis 1834 nach Rom ging, doch sein Einfluss war prägend, und die freundschaftlichen und beruflichen Kontakte blieben bis zum Tod von Labrouste 1875 lebendig. Nach seiner Rückkehr aus Italien ließ sich Klotz zunächst als Bauunternehmer, dann als freier Architekt in seiner Heimatstadt Straßburg nieder. Sein erster öffentlicher Auftrag wurde das Gebäude der heutigen Humanistischen Bibliothek in Schlettstadt, das er als städtischen Kornspeicher errichtete. Von den ersten Plänen 1838 ab ist klar, dass Klotz auf dem trapezförmigen Grundriss ein Gebäude mit offenem metallenem Dachstuhl plant, nach dem Vorbild Labroustes. Das „Mittelschiff“ wird flankiert von zwei durch Quertonnen überwölbte, zunehmend sich erweiternde „Seitenschiffe“, wobei die innere Struktur außen ablesbar ist. Die Ähnlichkeit in der weitgehend dekorlosen Ästhetik und unkaschierten Bauweise mit der Pariser Kirche Saint-Augustin (1860-71) von Victor Baltard, einem anderen Avantgardearchitekten, ist offensichtlich. Klotz ist also in die Reihe der großen, innovativen französischen Architekten einzugliedern, die seit der Mitte des 19. Jhs. mit neuen Materialien (bes. Stahl und Gusseisen) einen neuen rationalistischen Baustil praktizierten.
Gustave Klotz wurde 1839 in Straßburg zum Architekten des Departements ernannt, gehörte aber als Architekt des Oeuvre Notre Dame auch dem Rat der Diözesanarchitekten an, die dem Ministère des Beaux-Arts unterstanden, nicht der Diözese, und eine wichtige Rolle in der Verwaltung der Monuments Historiques (Denkmäler-Verwaltung) spielten. Dieses Gremium gab kollegiale Ratschläge zur Durchführung von Restaurierungsmaßnahmen an den kirchlichen Gebäuden, und sowohl Labrouste, als auch Viollet-le-Duc gehörten ihm an. Viollet-le-Duc übte als Architekt, Restaurator und Theoretiker einen starken Einfluss auf seine Zeitgenossen aus, wobei sein Blick auf die mittelalterliche Architektur nicht nostalgisch war. Vielmehr leitete er aus dem Studium der Gotik ab, dass die Ästhetik eines Bauwerks sich aus seiner offen zu Tag liegenden Struktur herzuleiten habe.
Ab 1858 beschäftigte Klotz sich mit der Planung eines neuen Vierungsturms, bis zu seinem Bau 1878. Unter Zustimmung und Beifall des Rates der Diözesanarchitekten hielt Klotz 20 Jahre lang an seinen Plänen fest, diesen Vierungsturm in neoromanischen Formen zu errichten. Sowohl gegenüber der französischen, als auch der deutschen Obrigkeit ab 1871 (er war als Architekt der Münsterbauhütte weiterbeschäftigt worden) widerstand er, wenn auch mit wechselnder Argumentation: beide Bürgermeister forderten die Verwendung einer neugotischen Formensprache, beide taten dies aus politischen Motiven, beide waren überzeugt, die Gotik verkörpere die jeweilige Nation. Für ihn stand fest, dass sich dieser Vierungsturm stilistisch der romanischen Apsis des Münsters anzugliedern hatte. Die von Klotz verwendeten Referenzen – zunächst die französische Kathedralbaukunst, dann die rheinischen Kaiserdome – passten sich der politischen Lage an. Von Dauer war dagegen seine Überzeugung, in Anlehnung an Viollet-le-Duc, dass sich die Form aus den Möglichkeiten der Technik, aber auch aus den allgemeinen Bedingungen des Bauens herleitet, als Produkt einer Zeit und eines Ortes. Klotz respektierte die Eigenheit des Straßburger Münsters als historisch gewachsene Struktur, als Baukunstwerk, über alle ideologischen Ziele hinweg – und setzte sich schließlich mit dieser modernen Sichtweise durch.
Sabine Mohr
Ill. : Musées de Strasbourg, Cabinet des Estampes, 77.998.0.544.