Am 6. Februar fand im Münsterhof, im Rahmen der gemeinsamen Vortragsreihe von Frauenwerk und Münsterverein, ein Vortrag in deutscher Sprache statt. Geladen war Prof. Dr. Norbert Nußbaum von der Universität Köln, herausragender Kenner der gotischen Baukunst. Aus Anlass des 600. Todestages Ulrich von Ensingens am 10. Februar 1419 in Straßburg ging es um den Kirchturmbau in der Spätgotik allgemein sowie um diesen besonderen Architekten. Ulrich Ensinger war während der langen Zeit seiner Beschäftigung am Ulmer Münster an verschiedenen anderen Bauten beteiligt, besonders in Mailand, Esslingen und Basel. 1399 wurde er nach Straßburg verpflichtet und begann mit der Planung des berühmten, auf der Plattform aufsetzenden Nordturms, den er dann wohl bis zum Niveau des Turmhelms oder wenig darunter ausführte.
In der Tat handelte es sich in der Zeit um 1400 – und obwohl insgesamt viel weniger ökonomische Mittel zur Verfügung standen – um eine Art europaweite Konkurrenzsituation, in der unter jeweils spezifischen Bedingungen in einer Stadt immer zahlreichere, höhere, spektakulärere Türme errichtet wurden, als Abbild der Majestät Gottes, aber auch als Zeichen von Exklusivität, als Manifestation des Ansehens, der Macht, der Rangs einer Stadt im Vergleich zu ihren nahen und fernen Nachbarn. Diese Türme hatten eine inszenatorische Funktion, die über ihren konkreten Nutzen als Glockenturm, Feuer- und Angriffswache hinausgingen. Die späteren illustrierten Stadttopografien eines Matthäus Merian beispielsweise belegen diese nachwirkende Tendenz: die Türme prägen den Stadtraum und bleiben jahrhundertelang der Stolz einer Stadt. In einem ersten Teil führte Norbert Nußbaum u.a. am gut dokumentierten Beispiel des Vierungsturms der Kathedrale von Rouen aus, wie man um die Entscheidungen rang, in welcher Form, in welchem Material, von wem und mit welchem Geld ein solcher Turm gebaut werden sollte. Es dürfte sich überall um einen langwierigen, Jahre oder Jahrzehnte dauernden, z.T. sprunghaften, auch von eigenmächtigem, dann wieder konsensuellem Handeln geprägten Prozess gehandelt haben, in dem Planänderungen und Unfälle eher die Regel als die Ausnahme waren (Kein einziger der von Ulrich von Ensingen geplanten Turmbauten wurde vollständig nach seinen Plänen fertig gestellt). Es ging um eine durch die städtische Organisation und wechselnde Machtverhältnisse bedingte Suche nach Ausgleich zwischen Interessengruppen wie Domkapitel (teilweise aus dem regionalen Adel stammend), Bürgerschaft, Korporationen, Einzelpersönlichkeiten usw., die auch unter Beteiligung der Gesamtbevölkerung Kompromissentscheidungen zu treffen hatten. Die Werkmeister spielten die Rolle von Vermittlern, die mit diplomatischem Geschick und auf der Grundlage breitgefächerter Kompetenzen Konsensbildung betrieben. Pläne wurden manchmal öffentlich zur Konsultation ausgestellt. Die zu dieser Zeit entstehenden großen „Risse“ auf Pergament dienten bei den verschiedenen Verhandlungen, sie wurden transportiert und verschickt, waren aber wohl keine Bauvorlage bei der Ausführung. Sie hatten offenbar auch vertraglichen Wert, anstelle einer schriftlichen Beschreibung. Die Bauexperten, die zur Begutachtung zu Rate gezogen wurden, waren eine überregional organisierte Berufsgruppe. Diese Werkmeister mussten durch eine Grundvergütung an die Bauhütte gebunden werden, wobei zusätzlich vergütete Anwesenheitszeiten ausgehandelt wurden, während der sie dann aktiv den Bau leiteten.
Ulrich von Ensingen war einer der begabtesten Turmbaumeister seiner Zeit, der wie andere „Stararchitekten“, z.B. die Parler, im Familienverband tätig war und weiterwirkte. Dieser Berufsstand war der einzige, dessen Mitglieder sich häufig in (Selbst-)Bildnissen am Bau, meist in Stein gehauenen Büsten, zu verewigten pflegte. Man kennt ihre verwandtschaftlichen Beziehungen, ihre Wirkstätten, doch viele Fragen bleiben offen. Die Zeichnungen und Risse sind nicht signiert. Zuschreibungen versucht die Forschung natürlich durch das Studium von Dokumenten, doch die meisten Archive wurden schon im 19. Jh. ausgewertet (es gibt allerdings immer noch Unentdecktes). Außerdem wird die traditionelle kunsthistorische Stilgeschichte durch die neuere Erforschung der Technologiestile sowie die Planforschung ergänzt: Trotz der Erfassung aller bekannten Risszeichnungen seit 2010 in einem Korpus schwanken die Datierungen und also auch die Zuschreibungen erheblich. Auch die „Interpretation“ dieser Zeichnungen ist umstritten. Im Gegensatz zu manchen seiner Kollegen geht Norbert Nußbaum davon aus, dass es nicht mit der Praxis der Steinmetzen in Einklang steht, in einen Plan ausschließlich Dreiecks- oder Fünfecksbezüge hineinzuinterpretieren, die gleichzeitig die für die Ausführung so entscheidenden Gegebenheiten wie die lichte Weite von Fensteröffnungen, bzw. die Relation zwischen Weite und Höhe außer Acht lassen. Die zeichnenden Werkmeister hatten eine 5- bis 7-jährige Ausbildung als Steinmetzen hinter sich und wussten aus Erfahrung: Für den Mann am Bau war es entscheidend, seine Maße mit einfachen Mitteln verifizieren zu können. Dementsprechend erkennt Nußbaum an vielen gotischen Bauten der Zeit Vielfachbeziehungen an Fensteröffnungen, z.B. an der Straßburger Westfassade innen (Plan D) ein komplexes, aber leicht zu handhabendes System von Proportionen (1:5, 1:4 und 1:3).
Auch die Stilgeschichte beschäftigt sich weiter mit Ulrich Ensinger. Auch wenn die Zuschreibung des Turmhelms weiterhin diskutiert wird, kann man wohl davon ausgehen, dass er, in Anlehnung an böhmische Vorbilder, wohl das Mastkorbmotiv an der Spitze des Turmhelms erfunden hat, wie man es nach Straßburg dann auch z.B. in Esslingen, Bern, Ulm und Burgos findet. Ebenfalls experimentell, wenn auch an versteckter Stelle, versuchte er sich an asymmetrischen, „ungotischen“ Maßwerkformen (z.B. in einer Ausführung für die Außenmauer der Ulmer Portalvorhalle), die dann auch an anderen Kirchenbauten im Rhein-Main-Gebiet auftauchen.
Zum Schluss plädiert Norbert Nußbaum kurz für eine Besinnung auf die erhaltenswerten Eigenheiten der europäischen Stadt, deren Gestalt aus einem zähen, aber auch kompromissbereiten Ringen um gemeinschaftlich getragene Lösungen hervorgegangen ist.