Der Straßburger Historiker Dr. Nicolas Lefort hielt am 15. Januar 2020 den vierten Vortrag dieser Saison. Sein Thema waren die Feierlichkeiten zum 500. Jubiläum der Fertigstellung des hohen Turms (genauer des Turmhelms) des Münsters, am 23. Juni 1439, sowie die Sicherungsmassnahmen vor und bei Kriegsbeginn. Vor etwas mehr als siebzig Jahren war die Organisation einer solchen Gedenkfeier in der Tat keine Selbstverständlichkeit. So konzentrierte sich Nicolas Lefort zunächst auf die Bedeutung, die man diesen Feierlichkeiten im gegebenen zeitgeschichtlichen Kontext zu geben gedachte, stellte dann die zahlreichen Festakte im Juni 1939 vor, bevor er im letzten Teil auf die Bauschutzmaßnahmen einging.
Gleich nach Fertigstellung im 15. Jahrhundert wird der hohe Turm von Straßburg zu einem dominanten Bildmotiv, und auch die schriftlichen Zeugnisse (Piccolomini 1443) lassen keinen Zweifel daran, dass man sich des außergewöhnlichen Charakters dieses Bauwerks als Emblem für Straßburg und für das Elsass eindringlich bewusst ist. Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts (Goethe 1770), im Laufe des 19. (Victor Hugo 1839) und noch verstärkt im 20. Jh. kommen dabei nationalistische, z.T. chauvinistische Sichtweisen hinzu, besonders auch bei Kunsthistorikern wie dem Deutschen Georg Dehio und dem Franzosen Emile Mâle. Gegen diese Inanspruchnahme des Bauwerks, speziell des Turmhelms mit seiner spektakulären Höhe von 142 Metern, lange Zeit (bis zum Ende des 19. Jhs.) der höchste Turm der Christenheit, als behaupteten Beweis für ein Nationalgenie, wendet sich 1939 der Kanoniker Joseph Walter in einem doppelt versöhnlichen Elan: Er möchte die künstlerisch-architektonische Inspiration der Nation enthoben und im Religiösen verankert sehen, und er setzt sich auch für eine gleichzeitige, gemeinsame Würdigung der Kathedralarchitektur und des Buchdrucks (Gutenbergjahr 1440-1940) ein, um Kunst und Technik nicht gegeneinander auszuspielen.
Zu einer Doppelfeier kommt es nicht, aber zwischen dem 23. und dem 27. Juni 1939 gibt es ein sehr vielfältiges Festprogramm, trotz der bedrohlichen Lage. Der kulturell-wissenschaftliche Aspekt ist sehr ausgeprägt: Der Münsterverein organisiert einen Kongress (147 Teilnehmer) und gibt eine Festschrift heraus, das von der Stadt erneuerte und erweiterte Museum des Frauenwerks wird feierlich wiedereröffnet, im Rohan-Palast gibt es eine Ausstellung mit historischen Kunstwerken, die das Münster darstellen, sowie ein Konzert mit alter Musik. Mehrere Bischöfe zelebrieren gemeinsam ein festliches Hochamt, und auch der volkstümlich-nationale Aspekt kommt nicht zu kurz: eine Briefmarke mit Sonderstempel kommt in Umlauf, es gibt einen großen Umzug mit historischen Kostümen aus dem ganzen Elsass und ein Brieftaubenfliegen. Die Trikolore weht in der ganzen Stadt, das Münster wird besonders beleuchtet und den Höhepunkt bildet ein großes Feuerwerk. Die Reden bei dem Festbankett mit 200 geladenen Gästen wie auch die Presse betonen den national bedeutsamen Charakter des Bauwerks, besonders eingedenk eines drohenden neuen Kriegs.
Der Bedeutung des Münsters entsprechend werden sehr weitgehende bauliche Schutzmaßnahmen getroffen. Abgesehen von dem Restaurierungsgerüst am Turm, das eine große Brandgefahr darstellt, entfernt man schon 1938 ein erstes Mal die mittelalterlichen Glasfenster, setzt sie wieder ein, entfernt sie von Neuem ab Ende August 1939. Mit allem anderen Mobiliar – Türflügel, Statuen, Orgeln, Gemälde, Gobelins – und auch den städtischen Archiven werden sie nach Südwestfrankreich (Dordogne) in Sicherheit gebracht und im Schloss Hautefort eingelagert. Die West- und Südportale verkleidet man mit einem 9 Meter hohen feuersicheren Schutzverschlag, der Engelspfeiler, die Kanzel und das Taufbecken innen sind ebenfalls verpackt, wobei interessanterweise die Gebäudeteile des 19. Jhs. und sogar das spätgotische Laurentiusportal den französischen Denkmalpflegern nicht schutzwürdig erscheinen, was von den deutschen Besatzern dann ab 1940 nachgeholt wird. Eine Schutzmannschaft der Stiftung Unserer Lieben Frau bleibt auch nach der Evakuierung vor Ort.
Abschließend und im Hinblick auf die heutige politische Situation mit wieder salonfähig werdenden nationalistischen Tönen betont Marc C. Schurr, der Präsident des Münstervereins, die Wichtigkeit und Aktualität des europäischen Projekts. Insbesondere die Gotik sollte in der Kunstgeschichte als insgesamt europäischer Stil behandelt werden, mit seinem Ursprung in Frankreich und seinen vielfältigen Weiterentwicklungen in zahlreichen anderen Ländern.