Anne-Christine Brehm, Friedrich Weinbrenner und das Straßburger Münster

Die habilitierte Kunsthistorikerin Anne-Christine Brehm aus Karlsruhe hielt am 12. Februar 2020 im Münsterhof einen Vortrag über ein ungewöhnliches Thema. Sie unterbreitete eine Antwort auf die Frage, wie der klassizistische Architekt und badische Oberbaudirektor Weinbrenner (1766-1826), der Schöpfer der Karlsruher Stadterweiterung (Marktplatz mit Rathaus und Kirche) sowie zahlreicher Kirchen und andere Bauwerke in Baden, der Bewunderer der römischen Antike, der in einem fünfjährigen Italienaufenthalt besonders in Rom (1792-97) die antiken Bauwerke studierte, der in mehreren Lehrbüchern als Gründer und Lehrer an der Karlsruher Bauschule eine ganze Architektengeneration klassizistisch prägte, in seinen Lebenserinnerungen zu der erstaunlichen Behauptung kommt, er habe für den Erhalt des Straßburger Münsters viel getan?

Temple_of_Reason_Strasbourg_1793-1794
Straßburger Münster – Tempel der Vernunft, Stich aus J. Ch. Dieterich: Revolutions-Almanach von 1795. Göttingen 1794

Weinbrenner selbst benutzte nur sehr spärlich gotische Architekturelemente, z.B. Spitzbogenfenster, er war sicher kein Vertreter der Neugotik, ganz im Gegenteil. Allerdings fühlte er sich dem Straßburger Münster, das er 1782, also vor den Zerstörungen in der Französischen Revolution (bes. 1793-94) erstmals kennen lernte und später intensiv studierte, auch aus familiären Gründen stark verbunden: sein Onkel war Straßburger Stadtarchitekt, und er selbst wurde 1798 durch die Heirat mit seiner Cousine Straßburger Bürger. Die gotische Architektur interessierte ihn, wie viele seiner Zeitgenossen. Er erarbeitete u.a. einen Vergleich zwischen dem Freiburger Münster, dem Wiener Stephansdom und dem Straßburger Münster, dem er den Vorrang gab. Wenn die Gotik auch nur Erstaunen, keine Bewunderung hervorrufe, so seien doch der Gesamteindruck und die Raumwirkung, sowie die Sichtbarkeit der Funktion, aber auch bauökonomische Aspekte zu schätzen. Darunter versteht Weinbrenner die Haltbarkeit durch Verwendung von Stein, aber auch die Vielzahl der Laufgänge am Bau, die Kontrolle und Reparaturarbeiten ermöglichten.

Weinbrenners Rolle für das Münster ist im Zusammenhang mit dem Dekadenkult („culte décadaire“) zu sehen, den die Revolutionäre 1793 einführten. Die Kathedralen wurden zu Tempeln der Vernunft umfunktioniert, an Stelle der Altäre sogenannte „Berge“ errichtet. In Straßburg gingen die Veränderungen nur langsam voran. Abgesehen von der Jakobinermütze, die das Kreuz auf dem Turmhelm ersetzte (eine Zerstörung des Turms war nie geplant), entfernte man die Kanzel 1798 und plante den Einbau eines Amphitheaters, Symbol der Einheit und praktischer Versammlungsort für die revolutionären Bürger. Weinbrenner, als anerkannter Architekt und unverdächtiger Spezialist der Antike, plädierte für den Einbau einer Holzstruktur, die den gotischen Bau nicht weiter beschädigen sollte – und wurde gehört. Es kam nicht zur Fertigstellung dieses Einbaus, da die „Jakobinermode“ zu Ende ging, doch Weinbrenner macht stolz auf seine das Bauwerk schützende Intervention aufmerksam. Er war in der Tat der Autor des ersten deutschsprachigen Denkmalschutzgesetztes in Baden: die mittelalterlichen Bauten sollten als geschichtliche Denkmäler, und weil sie „Keime“ von Kunst enthielten, geschützt und erhalten werden. Seine Haltung in einer heiklen Frage, die viele Forschergeister in der Zeit um 1800 bewegte, ist bedenkenswert: in Europa gebe es keinen nationalen Stil, nur Eigenheiten und Weiterentwicklungen. Die Gotik erstrecke sich über den langen Zeitraum zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert, und eine nationale Vorrangstellung sein nicht auszumachen.

Nach oben scrollen