Für Erwin beginnt alles, oder fast alles, mit dieser Inschrift: Im Jahr des Herrn 1277, dem Tag des Heiligen Urban, wurde dieses glorreiche Werk von Meister Erwin von Steinbach begonnen. Die Inschrift, die lange auf einem der Westportale der Kathedrale sichtbar gewesen wäre, sollte dort in weißen gotischen Großbuchstaben auf blauem Grund lesbar sein. Sie kündigte der ganzen Welt die Identität des Vaters dieses berühmten Gebäudes.
Seine Ursprünge sind von einem mythischen und nebulösen Schein umgeben. Soll man den um 1244 geborenen Mann Erckwyns, Ervinus oder Irwin nennen? Obwohl ein Manuskript besagt, er stamme aus Paris, nennen ihn die meisten Dokumente Erwin von Steinbach. Ohne formale Beweise wurde er 1844 von der gleichnamigen badischen Gemeinde annektiert. Sie beanspruchte ihn als den berühmtesten ihrer Söhne, nannte eine ihrer Straßen Meister Erwinstraße und errichtete ihm eine Statue auf.
Was können wir über seinen prägenden Jahre sagen ? Er hätte zunächst in der Bauhütte von Saint-Urbain de Troyes gearbeitet. Anno 1269 soll er dann die Stiftskirche St. Peter in Wimpfen aufgebaut haben, die einige eindeutigen Analogien zum Straßburger Münster aufweist. Ein weiterer Beweis für seine außergewöhnlich frühe Reife, von der Warte seiner Eiferer aus gesehen. Sein Ruf hätte sich bis nach Straßburg ausgebreitet, wo die Kanoniker von Jung-Sankt-Peter ihn als Architekten ihrer Kirche gewählt hätten. Dieser beispielhafte Erfolg – wovon das Erwin-Portal, das aus dem 19. Jahrhundert stammt, für einige zeugt – hätte das Domkapitel dazu veranlasst, Erwin als Verwalter der Fabrik einzustellen. Dies wird diesmal durch ein Manuskript vom 16. Oktober 1284 belegt. Welches aber für manche Leute eine Fälschung wäre.
Von da an nimmt der Mythos Gestalt an. Laut Specklin, hätte Erwin seine Arbeit 1015 in Straßburg begonnen – ein Anachronismus, der den Vorteil bietet, ihn mit Bischof Werner, einer weiteren Mitbegründerpersönlichkeit, zu inszenieren. Dann hätte er den Bau der Türme bis zu den vier Wendeltreppen geleitet, die er fertiggestellt hätte. Zuerst als Schöpfer des einzigen westlichen Massivs wahrgenommen, wird ihm dann die Erhebung des hohen Turms zugeschrieben. Bereits 1777 galt er sogar als Erbauer des gesamten Gebäudes und wird nicht weniger als Entwerfer des Lettners und als Baumeister der Engelsäule angesehen. Als begabter Bildhauer hätte er auf zwei Kapitellen des Kirchenschiffs eine eigenartige und respektlose Prozession von Tieren dargestellt, welche eine Messe feiern. In der Zwischenzeit hätte er noch die Glockentürme des Freiburger Münsters im Breisgau und der Stiftskirche in Thann errichtet. Er brächte sogar Baumeister aus Deutschland, Italien und England zusammen, um Anno 1275 eine Freimaurerloge nach englischem Vorbild zu errichten. Also ein unvergleichliches Genie, ein Übermensch…
Aber das Unglück fällt auf ihn wie in einer griechischen Tragödie. Nach Abschluss seiner Arbeit in Straßburg, hätte Meister Erwin an einer anderen Stelle Denkmäler errichten wollen, die seinen Ambitionen entsprächen. Aber da man es nicht ertragen konnte, das Münster sei nicht mehr das achte Weltwunder ist, ließe man ihm die Augen ausstechen. Er stärbe 1384, in einem mehr als kanonischen Alter also, da er ja um 1244 geboren wurde! Die Zeit, die an allem nagt, wird sein Grab für lange Zeit verschwinden lassen, so daß Goethe sich darüber beklagen wird, daß er es nicht finden konnte.
Aber der Name dieses Mannes, der ein Monument errichtet hat, das haltbarer als Bronze ist, wird fortan höher leuchten als je zuvor.
Seit Goethe, hat Meister Erwin in der Tat seinen Platz im Reiche der Genies der Menschheit gefunden.
Das Elsass feiert ihn im 19. Jahrhundert sowohl mit Théophile Schuler, der ihn in einem kraftvollen und romantischen Stil malt, als auch mit den Skulpturen von Philippe Grass. Sein Ruhm verbreitet sich bis nach Deutschland, wo ihm Theodor Schwartz 1834 ein romantisches Fresko in drei Bänden von jeweils mehr als 500 Seiten widmet, mit einer Affabulation der unglaublichsten Art. Moritz von Schwind, August von Kreling, um nur einige zu nennen, malen und heiligen ihn. Er wird an der Universität Karlsruhe statuiert, während in Dresden sein Name in vergoldeten Buchstaben an der Fassade des Albertinums zusammen mit Leonardo und Michelangelo erscheint. Als höchste Weihe, wird seine Büste im Jahre 1847 Teil des germanischen Pantheons der Walhalla, Denkmals, das zum Ruhm der großen Männer errichtet wurde, die die deutsche Zivilisation illustrierten. Sein Ruhm reicht sogar bis nach Finnland, wo sein Medaillon die Hauptfassade des Ateneums in Helsinki ziert.
Das 20. Jahrhundert feiert ihn weiterhin. Sein Name und sein Profil erscheinen auf Briefmarken, auf Gedenkmedaillons und auf der Titelseite der österreichischen Zeitschrift Der Wächter (1945-1990). Dies führt 1960 zur Gründung der Erwin von Steinbach Stiftung in Frankfurt, und gipfelt in dem Dokumentarfilm Le défi des bâtisseurs (Die Herausforderung für Bauherren), der 2012 von Arte ausgestrahlt wird.
Ganz zu schweigen von den reichen und gut dokumentierten Artikeln, die der Straßburger Münsterverein regelmäßig in seinem alle zwei Jahre erscheinenden Münsterblatt (Bulletin de la cathédrale de Strasbourg) veröffentlicht, denen diese Zeilen viel verdanken…
Francis Klakocer
Foto: © Manuela Gößnitzer