Das Männlein auf dem Geländer bei der Engelsäule

Ein Jeder, der im Münster gewesen, kennt das Männlein, das nahe bei der Uhr, oben über der St. Andreas-Kapelle, von dem Geländer der St. Niklaus-Kapelle emporschaut, zur prachtvollen Engelsäule, welche das Gewölbe des südlichen Kreuzarmes trägt.
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So, wie es da ausgehauen ist in Stein, mit seinem spitzfindigem, krummgezogenen Bauerngesichte, so stund es eines Jahres, vor vielen Jahrhunderten, unten in der Kirche bei der Engelsäule und schaute an dieser Letztern hoch und nieder, mit seinem Kennerblicke, vom Basamente bis hinauf zum Kapitäle und dann wieder hernieder vom Knaufe, die schlanke Säul’ entlang bis zum Fuße ; dann bog es seitwärts den Kopf und blinzelte mit einem Auge die Säule abermals empor ; dann  wieder maß er die Dicke des feingegliederten Säulenstammes und schien sie zweifelnd gegen der Höhe zu berechnen ; jedesmal schüttelte es bedenklicher das Haupt und sah sodann immer wieder hinauf zur Gewölbdecke mit noch bedeutsamerem, bedenklicherem Mienenspiele.

Da kam gerade der Werkmeister einher geschritten und sah das Männlein so mit forschenden Blicken vor der Säule stehen, wie es, augenscheinlich, die Höhe gegen der Dicke abmaß.

Erstaunt über des Mannes Benehmen, schritt der Werkmeister geraden Weges auf ihn zu und fragte ihn, was er da zu sehen, und ob es wohl etwas auszusetzen habe an der Säule?

Bejahend nickte der Fremde mit dem Haupte und lächelte dazu mit selbstgefälligem, vielsagendem Blicke.

« Wohlan denn, mein Freund! » – sagte ihm sodann auffordernd der Werkmeister, indem er dem Manne leicht und vertraulich auf die Achsel klopfte, – « Wohlan denn, so theilet mir nur unverholen Eure Bendenklichkeiten mit. »

« Schön ist die Säule allerdings! » – entgegnete drauf der Befragte, – « Schön ist sie, das ist gewiß! Sehr schön und kunstreich erbaut, ein wahres Meisterwerk der Kunst! Schön sind auch die Bilder alle dran! Schön die Evangelisten, schön die Engel drüber und oben der richtende Heiler! Zu schwach aber ist die Säule! Nicht lange Zeit wird der schlanke Stamm das schwere Gewölbe tragen! Bald, bald, wird sie von dem gewaltigen Drucke, seitwärts geschoben, und dann wird sie wanken und rettungslos einstürzen! »

« So, so! » – erwiderte hinwiederum der Werkmeister, und schaute ebenfalls mit fragendem Blicke, an der Säule empor, gleich als er sehen wolle und sich überzeugen, ob des Fremden Befürchtungen in der That begründet seien. – Sodann fragte er wieder: « Seid Ihr aber auch ganz sicher von der Wahrheit Eurer Aussage? »

Und forschend beschaute der Meister abermals die Säule abwechselnd und den fremden, dreisten Kunstrichter.

Ohne Zögern bejahte abermals der Letztere und wiederholte unverholen seine frühere Behauptung.

« Wohlan denn! » – sagte drauf der Meister indem er das Männlein noch schärfer ins Auge faßte » – « Wohlan denn! So sollt Ihr so lange emporschauen an der Säule, bis sie, vom Gewölbe erdrückt, sich bieget und zum Boden stürzet! » –

Und sogleich ging er in die Steinhütte, ergriff Meißel und Hammer, und mit sichrer, kunstfertiger Hand formte er das Männlein wie er es, so eben, gesehen hatte, emporschauend an der Engelsäule, mit pfiffigem Gesichte und bedeutsamem Kennerblicke.

Oben stellte er es dann hin, der Säule gegenüber, in die Ecke, mit beiden Armen auf das Geländer der Sankt Niklaus-Kapelle gestützt, das gerade zu jener Zeit gehauen und gesetzet wurde, aufblickend zu der Säule.

Und so lehnet nun das Männlein seit Jahrhunderten dort oben und schauet und schauet unverdrossen empor, mit unverwandtem, fragendem Blicke und harret der Stunde wo die Säule einstürzen müsse.

Noch stehet bar die Säule felsenfest und ohne allen Zweifel wird sie noch lange Zeit da unbeweglich stehen und dem guten Männlein wohl noch Langeweile machen und seine Geduld auf eine harte Probe stellen.

Recht dankbar muß erst noch das kunstsinnige, vorlaute Männlein dem Werkmeister sein, daß er es so bequem mit beiden Armen auf das Geländer gestützet hat, sonst könnte es dennoch am Ende gar zu müde werden von all seinem Schauen und Schauen. So jedoch, dank des Meisters wohlgemeinter und gefälliger Fürsorge, mag es sich noch glücklich schätzen, wenn es bloß mit einem steifen Halse und Genicke davon kommt.

Ludwig Schneegans, Straßburger Münstersagen, 1852, S. 54

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Ill. : Fryderyk – Own work, CC BY 3.0

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