Das Uhrwerk im Münster

Seit lange schon war das alte, ursprüngliche Uhrwerk im Münster in Abgang gekommen.

Da ließen Meister und Rath dasselbe durch ein noch viel künstlerisches ersetzen.

Ein Uhrmacher, der nirgends seines Gleiches fand, erdachte und vollführte das Wunderwerk.

Nirgends, weit und breit, nirgends auf der großen, weiten Welt, war ein Uhrwerk zu sehen, daß man, auch nur von Ferne, diesem unvergleichlichen Meisterstücke der Kunst hätte zur Seite stellen können.

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Auch war’s ein Jubeln, Rühmen und Loben in der ganzen Stadt, als das wundervolle Uhrwerk da stand im Münster, als die Glöcklein ertönten, als der Tod die Stunden schlug, die Apostel vorbeizogen und sich neigten vor dem Heilande, als die beiden Löwen, die das Stadtwappen halten zu brüllen anfingen, daß es das ganze Münster hindurch nachtönte und dröhnte, und als gar auch der Guller, droben auf der Spitze, die Flügel schlug und zweimal krähte, gleich wie der Hahn im Evangelium zur Stunde als Petrus seinen Herrn und Meister verleugnete im Vorhofe des Hohenpriesters Kaiphas.

So wundervoll war das neue Uhrwerk, daß der Rat, von eitler Ruhmbegierde verführt, sich zu der unerhörten Grausamkeit hinreißen ließ dem berühmten, unvergleichlichen Künstler die Augen ausstechen zu lassen, damit der Meister nicht anderswo ein ähnliches, oder gar noch ein künstlerisches Uhrwerk aufrichten könne!

Als aber ewige Nacht des unglücklichen Künstlers Augen umhüllte, da bat er und flehte, daß man, nur einmal noch, ihn hinaufführen möge zu seiner Uhr, damit er sie noch vollkommener mache.

Die Bitte wurde ihm gewährt.

Als aber der Künstler oben war, bei dem Räderwerke, da griff er rasch, mit gewaltigen Händen, in eines der Räder, und still stand das Rad und bewegungslos von derselben Stunde an. Und seit dem Augenblicke hörten die Löwen zu brüllen und auch der Hahn hörte fortan auf zu krähen für immer.

Der geneigte Leser wird mit dieser Meinung übereinstimmen: Schneegans‘ Text, durch seine vielen lobpreisenden Worte, verherrlicht die astronomische Uhr des Münsters bis in den siebten Himmel. Er macht sie zu einem Wunderwerk, das weit und breit seinesgleichen sucht, und tut dasselbe für seinen Schöpfer, den er für einen unübertreffbaren Künstler hält.

Aber die Legende ist auch in anderer Hinsicht interessant.

Von Anbeginn an bestätigt sie, daß es bereits eine erste Uhr gab, die durch den Lauf der Zeit stehen blieb. Sie wurde 1352 installiert und stand der heutigen genau gegenüber. Sie enthielt eine Statue der Jungfrau Maria, vor der sich die drei Weisen beim Klang eines Glockenspiels verbeugten, welches einmal pro Stunde spielte. Deshalb wurde sie die Uhr der drei Könige genannt. Ein Hahn krähte und schlug mit den Flügeln, der heute im Museum für Angewandte Kunst ausgestellt ist. Um 1500 hörte sie auf zu laufen.

Die zweite Uhr, von welcher unser Text erzählt, stammt aus dem Jahr 1574. Es vergingen also etwa siebzig Jahre, bevor man wieder ein Uhrwerk im Münster bewundern konnte, eine lange Zeit der Stille, die in der ersten Zeile unserer Geschichte erwähnt wird. Schneegans‘ Legende schreibt diese neue Uhr einem einzigen Uhrmachermeister zu, den sie geradezu anhimmelt. In Wirklichkeit war sie das Werk des Mathematikers Dasypodius, dem zwei Uhrmacher, die Gebrüder Habrecht, halfen. Gleich nach ihrer Inbetriebnahme erhielt diese neue Uhr einen beachtlichen Erfolg, dessen breites Echo die Legende widerspiegelt. Sie bot zum allgemeinen Erstaunen animierte Figuren – allerdings Tobias Stimmers Werk – die man auch im oben erwähnten Museum sehen kann.

Für die Dramatisierung seiner Geschichte reduzierte Schneegans deren Ausführung auf einen einzigen, genialen Schöpfer, dem man die Augen ausgestochen haben soll, wofür er sich gerächt hätte, indem er den Mechanismus seines Werks zerstört hätte. Diese Episode beruht allerdings auf eine reine Erfindung: Sie dupliziert nämlich den Mythos von Meister Erwin, der das gleiche Schicksal erlitten haben soll. In Wirklichkeit blieb das Uhrwerk im Jahr 1788 stehen, wahrscheinlich aufgrund eines Mangels an qualifiziertem Personal für die ordnungsgemäße Wartung.

Das heutige astronomische Uhrwerk, das weit und breit berühmt ist und von allen zu Recht hochgepriesen wird, ist also das dritte und stammt aus dem Jahr 1842. Es ist heute so berühmt, daß es jedes Jahr mehr als drei Millionen Besucher begeistert. Man muss die Menschenmenge erlebt haben, die jeden Tag um 12.30 Uhr die Automatenparade bewundert, um zu begreifen, wie tief Schneegans‘ dithyrambische Worte und Ausdrücke auch heute noch aktuell sind.

Fazit: Legenden leben ewig…

Louis Schneegans, Strasburger Münster-Sagen
Zusatz: Francis Klakocer
Ill.: Ernest Muller

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