Im ersten Vortrag dieser Saison (der ursprünglich schon im März vorgesehen war) sprach der emeritierte Professor für jüngere Geschichte, Spezialist für die Zeit der Reformation in Straßburg, Frank Muller über die Verwendung des typologischen Motivs ‚Ecclesia und Synagoge‘ und dessen Weiterentwicklungen und Variationen im Zeitalter der Reformation. Eine ausführlichere Fassung wird demnächst im Bulletin de la cathédrale de Strasbourg zu lesen sein.
Prof. Muller begann mit einer kurzen Erklärung zum im Mittelalter und darüber hinaus weit verbreiteten typologischen Denken in der Theologie: einer Figur oder einem Ereignis des Alten Testaments (oder auch der Mythologie), dem Typos, wird ein Antitypos, d.h. eine Figur oder ein Ereignis der Neuen Testaments, der ‚neuen Kirche‘ gegenüberstellt. Es geht nicht um eine abwertende Kontrastierung, sondern die Präfiguration wird sozusagen als Beweis der Erfüllung der göttlichen Verheißung benutzt.
Muller legte zunächst dar, inwiefern die beiden berühmten Statuen vom südlichen Querhausportal Teil eines typologischen ikonografischen Programms sind (in der Mitte König Salomon, darüber Christus als Salvator Mundi), mit Ecclesia zur Rechten von Christus (vom Beschauer aus auf der linken Seite), Synagoge zu seiner Linken, auf der negativ konnotierten Seite: In gewisser Weise gleichwertig, was ihre Rolle für das Portalprogramm betrifft, ist die Figur der Synagoge so durch ihre Stellung und durch ihre Attribute (Augenbinde und gebrochenen Lanze) gleichzeitig als abwertende Allegorie des Judentums zu verstehen (das die göttliche Natur Jesu nicht verstanden und anerkannt habe).
In der Reformationszeit ist zwischen den mehr oder weniger virulent antijüdisch eingestellten mittel- und norddeutschen Reformatoren (Luther inbegriffen) und den eher an Zwingli ausgerichteten Predigern der großen süddeutschen und schweizerischen Städte (Straßburg, Konstanz, Basel, Zürich, Bern) bis in die Mitte der 1530er Jahre hinein in der Beziehung zum Judentum ein deutlicher Unterschied zu erkennen. Letztere beherrschten als Humanisten das Hebräische (was eine ablehnende Haltung allerdings nicht ausschließt, z.B. bei Martin Butzer) und betrachten die Beziehung zum alten Testament weniger als Bruch denn als Fortsetzung.
In Straßburg finden sich die beiden Figuren vor allem im Buchdruck wieder, wie z.B. als Holzschnitt auf einer Titelseite von 1520, in Begleitung der Allegorien der Gerechtigkeit und der Wahrheit, oder 1528 in Begleitung von Adam und Eva. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verändert sich die Stimmung. Tobias Stimmer publiziert eine Art grafisches Diptychon mit der Darstellung von Ecclesia und Synagoge, deren Inschriften explizit den ‚Sieg‘ des Christentums durch Christi Blut, und die ‚Blindheit‘ des Judentums deklarieren. Interessanterweise schätzte man in Straßburg zur gleichen Zeit die Statuen von Ecclesia und Synagoge am Südportal für ihren künstlerischen Wert, von Ikonoklasmus ist nichts mehr zu spüren.
Die allegorische Gegenüberstellung von Judentum und Christentum findet sich auch weiterhin in anderer Gestalt: die Gesetzestafeln, Moses, die Anbetung der ehernen Schlange usw. werden der Verkündigung an den Hirten, der Auferstehung, dem Kelch usw. gegenübergestellt. Andererseits wird das Bildschema der beiden allegorischen Frauengestalten umgewandelt und nun angewandt auf die ‚alte Kirche‘, den Katholizismus, vs. die ‚neue Kirche‘, den Protestantismus. So z.B. in einem kleinen Fenster für die Universitätsbibliothek von Basel: die Reformationskirche hält das Kreuz, einen Kelch und die Bibel. Der Felsblock, auf dem sie steht, erdrückt die alte katholische Kirche, dargestellt mit Rosenkranz und umgekipptem Kelch. Die Feindschaft ersetzt eine gewisse (herablassende) Ebenbürtigkeit, die Gnade triumphiert über das Gesetz. Eine ‚Neuheit‘ ist die Darstellung des nackten Menschen zwischen beiden Möglichkeiten des Glaubens (in Anlehnung an das antike Bildmotiv des Herakles am Scheideweg, zwischen Tugend und Laster), z.B. in einem Gemälde von Hans Holbein von ca. 1535/37. Cranach als ‚offizieller‘ Maler Luthers malt im Jahr 1529 zwei Versionen dieses Themas: In dem einen hat der Mensch die Wahl – seine Gewissensfreiheit, in dem anderen wird die altkirchliche Seite extrem negativ dargestellt, sie ist keine mögliche Option. Beide konkurrierenden Darstellungen hatten eine pädagogische Funktion, sie dienten als Ausgangspunkte für Bildpredigten. Sie hatten in dem unter lutherischem Einfluss stehenden deutschen Raum ein langes Nachleben. Die Statuen der Ecclesia und Synagoge wirkten hinein bis in das künstlerische Schaffen des 19. bzw. frühen 20. Jhs. Man findet sie wieder in einem Gemälde des Romantikers Moritz von Schwind (1844) und später in einem Gedicht des elsässischen Dichters Ernst Stadler, in denen es – in Umkehrung der traditionellen Bewertung – um die legendäre Figur der Bildhauerin Sabina geht, die eine besondere Sympathie für die Figur der Synagoge hegt.
Sabine Mohr
Ill.: © Mathieu Bertola, Musées de la Ville de Strasbourg