Betreff: Münster
Chêne ist die französische Bezeichnung der Eiche. Der Begriff stammt aus dem gallischen drull bzw. seiner Abwandlung chassanh im Norden Okzitaniens, das sich zum Altfranzösischen chaisne weiterentwickelte. Der Zusatz robur ist ein lateinischer Begriff für die Kraft oder die Stärke, insbesondere bezogen auf die Robustheit und die Langlebigkeit vieler Eichenarten. Aus dem lateinischen robur wurde auch roboratif, Französisch für „kräftigend“, ein Charakteristikum das man einigen Heilmitteln gerne zuschreibt.
Die Eiche hatte über viele Zeitalter und Zivilisationen einen hohen symbolischen Wert. In der Antike ist der Baum ein Attribut des Zeus, die Gallier dagegen verbinden ihn mit den Druiden. In der Bibel werden Eichen als Bäume des Wissens/der Weisheit dargestellt und meistens mit Patriarchen verknüpft. Auch ist es die Eiche, in deren Schatten sich Gott am häufigsten offenbart, meistens vertreten durch einen Engel (etwa in Jakobs Traum). In den jüdisch-christlichen Religionen wird die Eiche als der König aller Bäume betrachtet, der in Verbindung mit dem Himmel, dem Regen und dem Blitz steht. In ganz Europa wird ihr gehuldigt, insbesondere in den germanischen Gegenden. So sprach einst der Hl. Ludwig das Recht unter einer Eiche. Entsprechend hat sie durchaus ihren Platz in der Symbolik einer gotischen Kathedrale des Heiligen Römischen Reiches.
Die Eiche steht für die Kraft des Glaubens und der Tugend. Sie ist eine der Pflanzen, die besonders häufig und auffällig schön in der Skulptur des Münsters vertreten ist. Man findet sie beispielsweise im mittleren Tympanon, in der Darstellung der Dornenkrönung sowie in den Darstellungen der Genesis desselben Portals. Sie ist auch in den Zierstreifen der Wölbungen aller drei Portale zu sehen. Blätter, Stiele, Eicheln und Fruchtbecher sind so naturgetreu dargestellt, dass man sogar die Art der Stieleiche erkennen kann, die so oft wiedergegeben wird – so auch auf dem Basrelief des rechten Flügels des bronzenen Tores.
Betreff: Flora
Die Stieleiche stammt aus den gemäßigten Gebieten von Europa und Westasien. Sie kann bis zu 1000 Jahre alt werden und eine Höhe von 35 Meter erreichen. In Frankreich ist die Stieleiche die gängigste Baumart unserer Wälder, die sich auf über 2000 Hektar ausbreiten.
Es ist eine einhäusige getrenntgeschlechtliche Art, was bedeutet, dass sowohl die weiblichen als auch die männlichen Blüten – auch Kätzchen genannt – auf jedem Baum vorhanden sind. Die Eicheln, eierförmige hell- bis dunkelbraune Früchte, sitzen zu dritt an langen Stielen. Die wechselständigen Blätter haben eine charakteristische, in Buchten gelappte Form. Sie sind daher gut erkennbar und dienen bekanntlich oft als symbolische Darstellung in etlichen Kulturbereiche Europas und Nordamerikas. Das rehbraune Holz ist hervorragender Qualität. Seit dem Mittelalter wurde diese Holzart besonders häufig für die Errichtung von Dachstühlen benutzt: Dank ihres hohen Gehaltes an Tannine ist Eichenholz quasi unverrottbar. Die Rinde wurde einst zum Gerben von Leder verwendet. Die Eicheln wurden vor allem als Viehfutter verbraucht, in Zeiten von Hungersnöten aber auch zu Mehl gemahlen für die menschliche Ernährung. Die unterschiedlichen Verwendungen der Materialien, die aus diesem Baum gewonnen werden konnten, haben erheblich zur Entwicklung der europäischen Zivilisationen beigetragen. Man denke beispielsweise an die Herstellung von Werkzeugen, an das Erbauen der Burgen und Festungen oder der Kathedralen, an den Schiffsbau etc. Heutzutage ist Eichenholz immer noch in der Schreinerei bzw. Tischlerei genutzt, als Heizholz, zur Herstellung von Furnier, als Material für Bahnschwellen oder als bevorzugte Holzart der Fässer, die dem Wein seinen ganz besonderen Charakter verleihen.
Zeichnung: Jaime Olivares.
Text und Foto: Shirin Khalili.
Übersetzung: Stéphanie Winzerith