Das Grüselhorn und der Judenblos

Im Sommer des Jahres 1349 kam in das Elsass das größte, schauderhafte Sterben, das bis dahin die Rheinlande heimgesucht hatte.

Aus Asien und Afrika herüber kam die Pest nach Europa und würgte, in der Christenheit gleich wie in der Heidenschaft, die Menschen zu Tausenden, denn, nach dem Berichte der gleichzeitigen Chronikschreiber, herrschte dieses Sterben von einem Ende der Welt bis zu dem anderen, jenseits wie diesseits der Meere.

Den schwarzen Tod nannten die von Schrecken und Entsetzen ergriffenen Völker diese grausame Pest.

Gräulich wütete dieselbe, zu Straßburg wie allenthalben: bei sechszehntausend Menschen gingen zu Grabe, und namenlos war der Jammer und das Elend!

Die Juden allein blieben verschont vor dem Tode, zu Straßburg wie auch an anderen Orten; und hier, wie anderswo, den ganzen Rhein entlang, erscholl die unheilvolle Kunde, daß sie Gift in die Brunnen geworfen und also das Wasser verdorben und das grausame Sterben hervorgerufen hätten.

Und weithin, in vielen Städten, vom Meere hinweg bis in die deutschen Lande, wurden die Juden verbrannt von den ergrimmten Völkern…

class=wp-image-1180
Emile Schwitzer, Bild (1894) dem Judenpogrom in Straßburg der 14. Februar 1349

Den ganzen Rhein entlang loderte Flamme an Flamme, droben von Basel bis hinunter in die Niederlande.

Zu Straßburg entdeckte man noch einen ferneren nicht unheilvollen Plan der Juden, der mit der Vergiftung der Bronnen in Verbindung stand.

Die Juden nämlich wollten das Entsetzen des Volkes benützen, um dem Feinde die Stadt zu übergeben, durch Verrat.

Ihr Plan aber wurde ruchbar, und wutentbrannt stürzte sich auf sie das von dem schwarzen Tode erbarmungslos gemarterte und überreizte Volk. Samstags, am Festtage des H. Valentin 1349, wurden die Juden verbrannt, wohl ihrer zweitausend, auf ihrem Leichhofe, auf einem hölzernem Gerüste. Und zur Erinnerung an ihrem Verrat, und weil sie mit Horne dem Feinde das Zeichen hatten geben wollen, zum Eindringen in die Stadt, verordnete der Rat, daß fernerhin, auf ewige Zeiten, droben von dem Münster herab, zweimal in jeder Nacht, das Grüselhorn geblasen werden sollte, den Juden zu Schmach und zur Schande.

Was sollen wir von dieser Legende halten?

Laut Schneegans, „kann sich diese Sage keineswegs auf das Jahr 1349 beziehen. Es dürfte sich dieselbe, wohl eher, […] an das Jahr 1388 anknüpfen, in welchem die Juden, zum wiederholten Male, aus Straßburg verbannt wurden; höchst wahrscheinlich, weil sie mit den Herren in Verständnis und Verbindung standen, welche damals Krieg führten mit Straßburg und welchen sie die Stadt durch Verrat hingeben wollten.

Zweimal des Abends, um acht oder halb neun Uhr und um Mitternacht, bliesen, vor Zeiten, die Wächter auf dem Münster […] den sogenannten Judenblas oder Judenblos, wie man in Straßburger Mundart sagte, auf einem ehernen, zwei Schuhe 9 ½  Zoll langen, mit den Wappen der Stadt und des Frauenwerks geschmückten Horne, welches man den Grüsel oder das Grüselhorn hieß.“

Außerdem sollten wir den Antisemitismus der Stadt Straßburg während der Zeit des Schwarzen Todes nicht leugnen. Das von unserem Autor angegebene Datum wird von Historikern bestätigt: am 14. Februar 1349, dem Valentinstag, jagte der Pöbel tatsächlich die Juden. Diejenigen, die den Massakern entkamen, wurden gewaltsam zusammengetrieben und auf den Scheiterhaufen geworfen, wo sie lebendig verbrannt wurden. Danach wurden die Juden 1362 wieder in die Stadt aufgenommen, bevor sie 1388 erneut vertrieben wurden. Ab 1388 durften die Juden also nur noch tagsüber in Straßburg weilen. Sie mussten die Stadt verlassen, sobald mit dem Grüselhorn auf dem Münster geblasen wurde. Dies war ihr Schicksal bis zum 18. Juli 1790.

Zu guter Letzt gibt es im Straßburger Münster tatsächlich eine Glocke, die heute die Zehn-Uhr-Glocke genannt wird. Sie wurde 1786 von Matthew Edel gegossen und läutete sowohl das Öffnen als auch das Schließen der Stadttore ein. Heute erinnert das Läuten der Glocke an diese Tradition. Sie sollte aber nicht mit dem Gebrauch des Grüselhorns verwechselt werden.

Die Verwirrung rührt von der Nähe der Daten her: das Grüselhorn hörte man bis 1790, aber die Glocke begann erst 1786 zu läuten. Die beiden Klänge waren also ungefähr fünf Jahre lang gleichzeitig zu hören. Es ist nicht überraschend, daß die beiden Laute miteinander verwechselt wurden.

Fazit: es wird also heute zu Unrecht behauptet, daß das Läuten der Glocke die Erinnerung an die Judenverfolgung verewigt.

Louis Schneegans, Strasburger Münster-Sagen
Zusatz: Francis Klakocer, mit Dr. Stéphanie Winzerith
Ill.

Nach oben scrollen