Uralte, halb verklungene Sagen, berichten, daß der Ort, wo jetzt das Münster sich erhebet, und des wundervollen Thurmes Spitze so kühn empor gen Himmel raget, seit mehr denn zwei Jahrtausenden, eine Gott geweihte und geheiligte Stätte sei.
Lange, lange Zeit vor Christi Geburt, da stund auf der Anhöhe, auf welcher seitdem die weltberühmte Domkirche erbauet wurde, ein heiliger, dem Kriegsgotte geweiheter Hain. Denn nicht in Mauern, von Menschenhänden aufgerichtet und nicht unter irgend einer von menschlichem Geiste erdachten Gestalt, beteten einst, im Heidenthume, die alten Deutschen ihre Götter an. Im geheimnißvollen, schaurigen Dunkel heiliger Haine, im undurchdringlichen Schatten dichtverwachsener Urwälder, welche keine Axt berührte, da wohnte die Gottheit, unsichtbar und unerreichbar dem irdischen Auge; ihre Gegenwart aber und ihr Wirken bezeugten das Rauschen der Wälder, das Lispeln der Blätter, das Gesprudel der Wellen, das Funkeln der Sterne und der Segen der Erde.
Mitten im heiligen Haine, ohnfern des Ufers der murmelnd und plätschernd dahinfließenden Ill, erhoben sich stattlich drei mächtige Buchen. Hoch empor wogten ihre Wipfel in die Lüfte, und weithin beschatteten unten ihre gewaltige Aeste das Heiligthum, wo die Gottheit thronte.
Hier, an geweihter Stätte, verehrte der Volksstamm der Triboker, der dieses Land innehatte, den Gott des Krieges. Hierher strömte, von nah und fern, aus den umliegenden Gauen, das Volk herbei in voller Andacht und Ehrfurcht, und brachte dem furchtbaren Gotte seine Opfer dar.
Lange stunden, stolz und prangend, die drei Buchen mitten im Gott geweihten Haine. Lange thronte in ihrem Schatten des gewaltigen Gottes Macht.
Erst als die Römer, durch das Glück ihrer Waffen, auch die Länder zwischen dem Rheine und dem Vogesus, ihrem Weltreiche unterwarfen, da fällte die Axt den heiligen Hain und die drei Buchen, und ein prachtvoller, dem siegreichen Kriegsgotte der weltgebietenden Roma geweiheter Tempel trat an ihre Stelle.
Doch auch der römische Tempel mußte weichen. Zerstöret sank er ein, als das Christenthum das Evangelium einführte, in den alsatischen Gauen und das Kreuz aufpflanzte zum Zeichen des Heils.
Alsobald erhob sich, demüthig und bescheiden, eine christliche Kirche, da wo ehedem der heilige Hain und die drei Buchen und sodann der römische Tempel gepranget hatten. Zur Ehre des dreieinigen Gottes und der heiligen Jungfrau Maria wurde sie eingeweihet.
Geschlecht um Geschlecht, Jahrhundert um Jahrhundert half treulich am Baue und so erstund, immer herrlicher ausgeschmücket, inmitten aller prachtvollen Dome am Rhein, das kostbarste Münster.
Und weithin in die Ferne pranget der wundervolle Bau, alles überstrahlend nah und fern, auf der Stätte, wo einst die drei Buchen majestätisch ihre grüne Krone im Winde hin und her gewiegt hatte.
Dieser Text ist eine lebhafte und überschwängliche Lobrede auf das Straßburger Münster, Wunderwerk unter den Wunderwerken, ein unvergleichliches Monument entlang des Rheins. Wir werden ihm diese Verblendung gerne verzeihen, der sein großes Vorbild Osias Schad, von dem er sich so gerne inspirieren ließ, bereits erlegen war.
Diese Geschichte ist mit einem Hauch Poesie gespickt, die den damaligen Zeitgeist wiederspiegelt. Insbesondere die Ausführungen, die Schneegans über die drei majestätischen und schlanken Buchen einfließen lässt, die ihre grünen Kronen im Wind schwingen, sind schöne Beispiele poetischer Abschweifungen. Darin zeigt sich der Einfluss Chateaubriands sehr eindeutig, dessen Werk Le génie du christianisme (1802) seinen Durchbruch in der Literatur markierte.
Schwerwiegender ist allerdings die Unglaubwürdigkeit, mit der Schneegans einen Zusammenhang zwischen dem Namen der Tribocher und dem Ort drei Buchen suggeriert. Er beruft sich hier auf eine vage Konsonanten-Analogie, um eine so genannte Volksetymologie vorzuschlagen, was aber sprachwissenschaftlich nicht belegt ist und somit nicht den geringsten Wert hat.
Was die Abfolge von Kultstätten mit unterschiedlichen Riten – ob nun keltisch oder germanisch, römisch oder christlich – auf dem Gelände des heutigen Münsters betrifft, so müssen wir uns hier mit Hypothesen zufrieden geben. Selbst die Überlieferung, wonach es an dieser Stelle ein dem Gott Mars geweihter römischer Tempel gegeben haben soll, ist bisher nicht nachgewiesen. In seiner Anmerkung am Ende des Textes bezieht sich Schneegans auf die Praxis nach welcher das Christentum das Heidentum an gleicher Stelle ersetzte. Er beschreibt eine Umsetzung der Zeilen des heiligen Augustinus: „Tempel werden nicht zerstört, Götzen werden nicht zerbrochen, heilige Haine werden nicht abgefällt; man macht es besser, sie werden gesegnet und Jesu Christo geweiht.“
Lasst uns Schneegans trotzdem etwas der ihm gebührenden Anerkennung zollen. Die Tribocher, von denen er uns erzählt, waren ein Stamm, der tatsächlich zur Zeit der Römer existierte. Allerdings sind sich die Historiker bis heute uneinig, ob dieses Volk germanischen oder keltischen Ursprungs war. Die Tribocher ließen sich um 60 v. Chr. im Unterelsass nieder, gründeten ihre Hauptstadt in Brocomagus, dem heutigen Brumath, und besetzten die Region zwischen dem südlichen Hagenauer Wald und dem Landgraben – einem Graben, der lange Zeit als Grenze zwischen dem Unter- und dem Oberelsass diente. Ihr Territorium umfasste somit das Gebiet des heutigen Straßburgs, was dem Text unseres Autors einen leichten Hauch von Wahrhaftigkeit verleiht.
Somit ist eines offensichtlich: Dieser Text hat den Charme poetischer Legenden, die alte Traditionen vermitteln und die bereitwillig von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden.
Sonst nichts, aber das allein ist schon viel.
Louis Schneegans, Strasburger Münster-Sagen
Zusatz: Francis Klakocer
Ill.: Villeneuve, Forêt des Druides, scène d’une représentation au Théâtre Royal Italien à Paris de Norma, de Bellini – Lithographie, coloriée, vers 1835 – Paris, Bibliothèque de l’Opéra (gallica.bnf.fr).