Es war einst eine lustige Zeit, als der Rohraffe, unten an der Orgel, alleine herrschte im Münster.
Welch ein Jubeln und Frohlocken war es da nicht, im Gotteshause wenn am Pfingstfeste die Landleute, von nah und fern, hereinzogen ins Münster, mit ihren Reliquien und Heiltümern, mit Kreuzen, Fahnen und Kerzen; und dann, droben an der Orgel, irgend ein pfiffiger Geselle, oder Pfaff oder Laie, je nach dem es sich eben traf und schickte, sich hinter den Rohraffen steckte, und während des Gottesdienstes, während Messe, Amt, Vesper und Komplet, sich nicht scheute, laut auf zu lachen, zu brüllen und zu schreien, und sogar allerlei schandbare Lieder herab zu singen, gegen die Gläubigen unten im Schiffe, und ihrer und insbesondere der Landsleute Einfalt zu spotten und zu schmähen ohne Ende, ja selbst der Stiftsherren und Pfaffen nicht schonte, die da andachtsvoll sangen im Chore .
Wohl stund dann manch Bäuerlein da, verblüfft und verdutzt und kratzte verlegen hinter dem Ohre und wagte es kaum empor zu schauen zu der Orgel; wohl entsetzten sich auch dann viele Gläubige über die schandbaren Lieder und das rohe Gebrüll des Rohraffen und noch mehr über die unerhörten, sündbaren Lästerungen und Schmähungen, welche der lose und freche Geselle sogar gegen die Kirche und die Pfaffheit auszustoßen sich nicht fürchtete; wohl machte mancher, betroffen und erschrocken, des Kreuzes Zeichen und ging kopfschüttelnd von dannen, aus dem schmählich verhöhnten und entheiligten Gotteshause.
Doch viele waren auch drunten im Schiffe, die da Gefallen fanden, an des Rohraffen Brüllen, Gesängen und Lästerungen, und die hell auflachten, aus vollem Halse, über die sündhaftesten Spottfluten, welche der pfiffige Geselle an der Orgel droben, ohne Unterlaß, herniederschütterte über die Pfaffen im Chore drunten und über die dummen, arglosen Bäuerlein im Schiffe, die da ihre Gesänge horchten in ihres Herzens Einfalt.
Und jedes Jahr war es eine neue Freude für den Rohraffen und seinen Gefährten, wenn Pfingsten wieder nahte. Voll Ungeduld bereitete er, alljährlich, seine Lieder und Späße und konnte jedes Mal kaum den Festtag erwarten, wo die armen Bäuerlein, in ihrer heiligen Einfalt, wieder emporsehen würden zu ihm, mit ihren dummen, verblüfften und verdutzten Gesichtern und mit ihren vorlauten Erstaunen weit geöffneten Mäulern.
Seit Jahrhunderten genoss er ja alljährlich diese Freude; und nie wäre ihm, auch nur im Entferntesten, in den Sinn gekommen, daß jemals eine Zeit erscheinen könnte wo ihm, am Pfingstfeste, die Herrschaft würde streitig gemacht werden im Münster!
Anders wurde es jedoch plötzlich, als einmal der „Guller“ oder „Göcker“ droben auf dem Uhrwerke stand, und jedes Mal wenn es zwölf schlug, zur namenlosen, freudigen Verwunderung der dicht gedrängten Menge, mit des Flügeln schlug und darauf krähte; einem lebendigen Hahne gleich, daß es weithin durch die Kirche klang, gerade wie zur Zeit sein Vorfahre zweimal gekräht hatte zu Jerusalem, als Petrus zu dreien Malen seinen Herrn und Heiland verleugnete.
Von da hinweg, leider! erging es dem Rohraffen im Münster, wie es, vor und nach ihm, noch vielen ergehen wird auf Erden! Auch er, der so lange und so hoch Gepriesene und Bewunderte, musste noch am Ende der Menschen Undank erfahren!
Tief aber schnitt dieser Undank dem Rohraffen in die Seele! Er konnte es nicht begreifen, er konnte es nicht ertragen, so zu sehen wie Alles nun dem Hahne zulief und sich erlustigte an seinem einförmigen und einfältigen Geschrei. Er selbst aber mochte singen und jubeln und Witze herabschreien und Schmähungen ohn‘ Ende; ja er mochte klagen sogar und jammern und stöhnen und seufzen und sodann wieder brüllen aus Leibeskräften, so laut und so lange er auch wollte, um den Hahn zu übertönen: es gelang ihm nimmermehr. Ohnmächtig verhallte all sein Toben und Zürnen in des Münsters weiten, hochgewölbten Gängen, und nichtsdestoweniger drängte sich immer aufs Neue wieder alles dem verhassten Hahne zu, als wäre niemals ein Rohraffe gewesen droben an der Orgel!
So leichten Kaufes konnte Letzterer nicht einwilligen nach vielhundertjähriger alleiniger Herrschaft und ausschließlich besessener Volksgunst, Krone und Zepter niederzulegen und einem verachteten, einfältigen Guller den Tron einzuräumen und die ungeteilte Huldigung der gaffenden, Beifall klatschenden Menschen.
Laut schrie er hernieder in die Kirche und rief dem Volke all die herrlichen, genussreichen Tage zurück, die er ihm und dessen Vorfahren seit Jahrhunderten gegeben und noch auf lange Jahrhunderte hinaus vorbereitet hatte. Mit tiefbewegter Stimme klagte er über den schwarzen Undank womit er nun bezahlt werden sollte, und schmälte gewaltiglich und ohne Rückhalt gegen den abgeschmackten Göcker am Uhrwerke droben. Alle seine Beredsamkeit war jedoch vergebens. Umsonst berief er sich zu wiederholten Malen auf seine ruhmvolle Vergangenheit, auf seine vor Kurzem noch so glänzende Laufbahn, auf die Erinnerung und Gerechtigkeitsgefühl der Menge und forderte laut die versammelten Bürger auf, den Streit zu entscheiden zwischen ihm und dem Hahne.
Dieser, seinerseits, berief sich mit hochmütigen Worten auf die glorreich erworbene Volksgunst und ließ sich sogar ganz verächtlich gegen den Rohraffen aus, es stehe dem Volke gänzlich frei, lieber seinem täuschenden Gesange zuzuhören, und dem wundervollen Uhrwerke zuzulaufen und beim Schlagen der Uhr die heiligen drei Könige sich beugen zu sehen vor der Mutter Gottes mit dem Christuskinde, als eines veralteten, sündhaften Witzboldes abgedroschene Späße, und plumpe, ekelhafte Unflätigkeiten über sich ergehen zu lassen.
Furchtbar gerieten die beiden an einander, die erstaunte Menge auffordernd den Streit zu entscheiden durch ein volkstümliches, schiedsrichterliches Machtwort.
Niemand aber, drunten im Münster, getraute sich, weder dem Einen, noch dem Anderen, zu willfahren.
Weder der kleine, noch der große Rat selbst fanden sich erleuchtet genug um das Urteil zu sprechen zwischen den zwei erzürnten Gegnern.
Und so geschah es, am Ende, daß der Streit zwischen dem Rohraffen und dem Hahne dem Scharwächter am Scharwächterhause heimgewiesen wurde, solchen Kampf hinzulegen und zu schlichten.
Allein auch der Scharwächter selbst getraute sich nicht, trotz aller seine Salomonischer Weisheit und Gerechtigkeit, irgendwie ein Urteil zu fallen, obgleich er Jahrhunderte lang unbeweglich am Scharwächterhause stand und sich durchaus auf nicht Anderes mehr besann.
Und so geschah es, daß bis auf die heutige Stunde, der Streit und Kampf zwischen dem Guller und dem Rohraffen im Münster unentschieden geblieben ist, und daß niemand sich gefunden, der zugleich erleuchtet, gelehrt und beherzt genug gewesen wäre die jenem Streite zu Grunde liegende äußerst schwierige und verwickelte Rechtsfrage zu entscheiden.
Der Roraffe im Münster ist eine jener eigenthümlichen Erscheinungen deren wir im Mittelalter so manche andere vorfinden, die nicht weniger als er unser Erstaunen erregen. All’diese, für uns Neuern beinahe unbegreifliche Gebräuche und Volksfeste, welche die Kirche stillschweigend zuließ, nahmen ihren Ursprung aus jenem tiefen Zuge sarkastischer Ironie und giftiges Spottes sogar, welchen wir, das ganze Mittelalter hindurch, neben dem streng orthodoxen Glauben der Kirche und der frommen Einfalt der Menge, finden. Andererseits aber bezeuget hinwiederum eben dieser lose Spott, welcher, frei und offen, und ohne Widerstand des Klerus und der Kirche, in den Gotteshäusern selbst geduldet wurde, den hohen Standpunkt und die festbegründete Macht der Kirche sowohl als der sie vertretenden Geistlichkeit. So groß war diese Macht und das Ansehen der Kirche und ihrer sichtbaren Stellvertreter, daß Jahrhunderte hindurch, selbst diese öffentlichen, jedes Jahr wiederkehrenden Schmähungen und aller dieser grenzenlose Unfug, denselben keinen Eintrag zu thun vermochten.
Der Roraffe trieb sein tolles Spiel bis über das 15te Jahrhundert hinaus. Im Jahre 1501 drang noch der berühmte Domprediger, Dr. Johannes Geiler von Kaysersberg, bei Meister und Rath, gar gewaltig, auf Abschaffung dieses namenlosen Unfuges; wie er zwanzig Jahre zuvor schon, es dahin gebracht hatte die nicht minder ausgeachteten Nachtfeste im Münster, am Festtage St. Adolphs, den 29. August, als am Jahresfeste der Einweihung der Münsterkirche, und ursprünglich an sämmtlichen Frauen-Tagen, abthun zu machen.
Der Roraffe unter der Orgel war einer der sogenannten Wortzeichen, welche ehemals den Fremden im Münster gewiesen wurden. (Schadäus S. 76; Künast S. 12 und Heckheler, S. 98).
Der Guller oder Göcker, welcher dem Roraffe theilweise sein Spiel und seine Herrschaft verdarb, war der noch jetzt im Frauenwerke aufbewahrte Hahn, welcher auf dem ersten, im Jahre 1532 aufgerichteten Uhrwerke aufgestellt wurde, und welcher bis zu der, vor kurzen Jahren vorgenommenen Wiederherstellung des im Jahre 1574 vollendeten zweiten, ehemals hochberühmten und nebst dem Münsterthurme unter die sieben Wunderwerke Deutschlands gerechneten Uhrwerks, an dem Letzteren aufgestellet war.
Des in obiger Seite besprochenen Streites zwischen dem Roraffen und dem Hahne, so wie eines darauf bezüglichen gar alten Liedes thut der Mathematiker Conrad Dasypodius Meldung, im ersten auf das alte Uhrwerk bezüglichen Kapitel seiner wahrhafftigen Auslegung deß Astronomischen Straßburgischen Uhrwerks. (S. Schilters neunte Anmerkung zu Königshovens Chronik, S. 575.)
Nachdem Dasypodius erzählet hat, daß man von dem alten, ursprünglichen Uhrwerke nichts benützen konnte „ ausgenommen der alte Göcker oder Han, welcher sehr alt, nehmlich über die 200 Jahr alt ist, und zur selbigen Zeit auch ein selßam Wunderding gewesen, daß ein Han also krähen sollte,“ fügt er hinzu, „ welches bezeugt ein gar altes Lied von dem Hanen in dem Münster, und dem Rohraffen, in welchem der Roraff als der älter ist gewesen, sich beklagt, es laufe ihm niemand mehr zu, ihm und seim Thun, das dazumal auf gewisse Tag bräuchlich war zu sehen, sondern jederman lauffe zu diesem Hanen und wolle sein Hanengeschrey hören.“
„Auch wird der Kampf und Streit, so zwischen dem Hanen und Roraffen entstanden, dem Scharwächter am Scharwächterhauß heim gewiesen, der solchen Kampff und Streit hinlegen und richten sollte.“
Aus einer Stelle Heckhelers ersieht man ferner, daß der Roraffe, im Volke, auch der Bretstellenmann geheißen wurde.
Heckheler beschreibt und rühmt dort (S. 98) : daß in gute Obacht zu nehmen die fürtreffliche Orgel und darunter 1) der Bretstellen-mann sonsten Rohraff genannt, und 2) der Mann, so ein Trommel in der Hand hat, und 3) der Simson, welcher dem Löwen den Rachen auffreißet, welche alle drei Bilder zu Zeiten, durch Antrieb des Organisten und Windtwerks, durch einen künstlichen Zug, den Mundt auff- und zuthun, sich bewegen und wenden.“ Vergl. Mein größern Aufsatz: Das Pfingstfest und der Roraffe im Münster zu Straßburg, in der Alsatia für 1852 (S. 159-282). Jener Aufsatz ist jedoch in sofern zu berichtigen, daß der berüchtigte Roraffe nicht, wie es dieser sonderbare Name anzudeuten scheint, ein groteskes Affenbild gewesen, sondern daß derselbe kein anderer war als eben die, noch jetzt noch vorhandene, mit einem Taktstabe versehene, bärtige Bauernfigur, rechts unter der Orgel, welche Dr. Heckheler unter Nummer 1 Angibt. Obige Stelle Heckhelers, nebst einer zweiten in des berühmten Orgelbauers Silbermann Handschriften lassen hierüber keinen Zweifel mehr zu. (S. Friese, Historische Merkwürdigkeiten des ehemaligen Elsasses, aus den Silbermann’schen Schriften gezogen, S.131.)
Louis Schneegans, Strasburger Münster-Sagen
Ill.: CRDP Strasbourg / Je-Elle