Die Johannisnacht im Münster

Am Tage Johannis des Täufers, im Jahre des Herrn 1007, fiel des Himmels Feuer auf das Münster und brannte es nieder bis auf den Grund, mit der Kirche des heiligen Thomas, und beinahe mit der Hälfte der Stadt, zu Schutt und Asche.

In der Woche Johannis des Täufers, im Jahre des Herrn 1439, wurde des Turmes wundervolle Spitze vollendet und der Muttergottes Bild darauf gestellet, um fernehin in die deutschen Gaue den Völkern zu verkünden, daß nun endlich das riesenhafte, vor Jahrhunderten durch die Väter begonnene Werk des Glaubens und der Sühne, glücklich und ruhmvoll vollendet sei.

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Auch war der Johannistag von jeher ein großer Festtag auf und im dem Münster, und zwar nicht für die Lebenden allein, sondern auch für die Todten.

In der Johannisnacht, wenn es Mitternacht hallt hernieder von dem Thurme, da regen sich in den Gräbern die alten Meister, welche das Münster erbaut, und alle Künstler, welche an dem Dombau oder an dessen Ausschmückung Antheil genommen haben. Rings um das Münster und inwendig den ganzen Dom entlang, wogt dann ein buntes, vielbewegtes, verworrenes Schweben und Schwirren.

Den Meisterstab und den Zirkel in den Händen, entsteigen die alten Werkmeister aus ihren Grüften. Dicht um sie her schaaren sich ihre getreuen Steinmetzen, mit dem Richtscheite in der Hand. Und die Bildhauer und Maler fehlen nicht in der Reihe. Und Alle begrüßen sich mit innigem Blick und traulichem Handdruck, und Alle freuen sich des minniglichen Wiedersehens.

Und drauf woget und wehet, und schwebet und kreiset, und schwirret und sauset es hin und her, und auf und nieder, im Dome, alle Gänge hindurch, ein unendliches Geisterwogen!

Hernach zieht der Zug hinaus zum Portal, und abermals woget und wehet, und brauset und schwebet, und schwirret und drehet es, hin und her, und auf und nieder, rings um das Münster, bis hinunter zum Chor, ein unendliches Geisterwogen und Wehen. Um die Portale, um Giebel, Fenster, Gänge, Streben und Bogen, überall, leis und geheimnißvoll, tönen und flüstern Geisterklänge durch die stille Nacht.

Und immer höher steigt der Mond auf seiner nächtlichen Bahn. Immer mehr neigt die Stunde sich zu Ende.

Da schwirret es empor, sanft aber rasch, vom Portal drunten auf den Gräten, das Schiff entlang, hinauf an Erwin‘s Vorderbau, bis hinauf zu des hohen Thurmes lustiger Spitze; und eine Jungfrau, rein, im weißen Gewande, den Meißel in der Linken und den Hammer in der Rechten, schwebet auf und nieder und umkreiset die Spitze, verkläret im silbernen Licht des Mondes.

Und immer höher noch steigt der Mond empor. Nur kurze Augenblicke noch und die Stunde ist zu Ende.

Da schwebet die weiße Jungfrau allmähliglich hernieder vom Thurme, dem Chore zu wogend mit leisem Geisterbeben.

Horcht! Jetzt schallet es eins droben vom Thurme durch die Nacht.

Und, husch! Wie es woget und wehet! Nur ein Gesause, nur ein Gebrause! Und entschwunden ist all das Wogen und Schwirren der Geister.

Drunten im kühlen Grabe sind alle wieder, still schlummernd und friedlich, bis über’s Jahr die hallende Glocke sie auf’s Neue wecket und rufet, wenn es wieder Zwölfe schlägt hernieder vom Thurme, in der Johannisnacht.

Louis Schneegans, Strasburger Münster-Sagen
Ill.: jbm-photos.com

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