Die beiden Arbeiter

Es war im Jahre 1276, am Feste der Lichtmesse, als man in Straßburg sich anschickte, den Bau der prachtvollen, majestätischen Vorderfassade des Münsters, nach der durch Meister Erwin von Steinbach gestellten Visierung zu beginnen.

class=wp-image-1470
Anonyme, Cathédrale de Strasbourg, aquarelle, après 1870.

Konrad von Lichtenberg, reich geschmückt im bischöflichen Ornate, hielt selbst an diesem Tage die Messe von Unserer  Lieben Frauen, auf dem Fronaltare im Münster,  und flehte zu Gott und seiner lieben Mutter, Patronin der Kathedralkirche und der Stadt, daß sie gnädig und huldreich herabsehen möchte auf den Bau, der nun, zu ihrer Ehre, aufgeführt werden sollte.

Nach vollendeter Messe ging der Bischof, gefolgt von den Domherren und anderen Geistlichen, von dem Stadtrate, dem Adel, der Bürgerschaft und den übrigen Einwohnern, Männern, Frauen, Jünglingen und Jungfrauen, in feierlichen Prozession zur Kirche hinaus auf den Platz, wo die Fassade mit ihren beiden Seitentürmen sich reich geschmückt erheben sollte gen Himmel.

Dreimal umwallte der Bischof und der ihm nachfolgende Zug die umsteckte Baustätte. Sodann weihte er den Platz feierlich ein, nach den Vorschriften der Kirche. Hernach ergriff Konrad eine Schaufel, stach sie dreimal in die Erde und warf dieselbe auf. Ebenso taten nach ihm die Domherren und die übrigen Geistlichen, einer um den Anderen.

Voller Ungeduld harrten die Gräber bis der Letzte vollendet haben würde, um sodann die Arbeit zu beginnen, auf der nun Gott geweihten Stätte, und nach dem Fundamente zu graben.

Kaum hatte der letzte Geistliche den dritten Stich getan, da eilten die Arbeiter herzu voller Ehrfurcht und Eifer.

Allen voran, zwei unter ihnen, die sich hastig vordrängten, um, aus sonderlicher Andacht, an der Stelle zu graben, welche Konrad betreten und wo der hochverehrte Bischof selbst die Erde ausgestochen hatte. Ein Jeder von ihnen wollte der Ehre genießen, die Arbeit zu beginnen an dieser Stelle. Keiner wollte dem Anderen weichen, und alsobald sah man die Zwei sich schlagen in grimmer Wut.

Zornentflammt schwangen sie die Schaufeln, und bald lag der Eine, rot im Blute, niedergeschmettert zu Boden durch einen furchtbaren Schlag seines Gegners, im Beisein und im Angesicht des Bischofes, der Geistlichkeit und des ganzen Volkes.

Ein Schrei des Entsetzens schallte ringsum ob dieser unerhörten Freveltat!

Heftig erschrak auch der Bischof… Alsobald kündete er die Arbeit auf, für neun Tage, auf der durch den Todschlag entheiligten Stätte. Erst nachdem er dieselbe aufs Neue geweiht und hier durch ob jener Gräueltat erzürnte Mutter Gottes versöhnt hatte, begannen die Arbeiter, zum wiederholten Male, zu graben. Und diesmal gruben sie mit solchem Eifer und solcher Andacht, daß schon im folgenden Jahre das Fundament vollendet war, und daß, am St. Urbans Tage 1277, Bischof Konrad schon feierlich den ersten Stein an Erwins glorreichem Werke legen konnte, welches sodann, von Jahr zu Jahr, immer höher und blühender emporstieg, gleich der Blume des Frühlings, aus dem tiefen Schachte, den die Arbeiter gegraben hatten.

Louis Schneegans, Strasburger Münster-Sagen
Ill.: Musées de la Ville de Strasbourg

Nach oben scrollen