Das heilige Grab

Auf der Mittagseite des Münsters hatte Bischof Berthold II., ein geborener Graf von Bucheck und des Landgrafen Sohn von Burgunden, eine schöne, geräumige Kapelle erbaut, im Jahre 1349, in der Ehre der heiligen Katharina geweiht.

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Aufsatz über die Wiederherstellung des Heiligen Grabes, Schema zur Darstellung der allgemeinen Struktur und der Hauptelemente des Skulpturenschmucks.

Dahin verordnete er sein Begräbnis.

Dem rührenden, großartigen Gebrauche des Mittelalters gemäß, ließ der Bischof, bei seinen Lebzeiten, sich selbst sein Grab, in der von ihm gegründeten und eingeweihten Kapelle, aufrichten.

Wacker arbeiteten die Steinmetze an dem Gruftsteine.

Da kam, eines Tages, der Bischof denselben zu beschauen.

„Gott grüß‘ Euch! „– sagte er hereintretend zu dem Meister. – „Wie steht es mit meinem Grabe?“

„Dank Euch Gott! Gnädiger Herr!“ – erwiderte der Werkmeister – „Euer Grab wird schön! Den Heiland selbst könnte man hineinlegen!“

Berthold aber, als er solches hörte, und den prachtvoll gearbeiteten Gruftstein erblickte und sah, daß derselbe viel schöner war als das Heilige Grab, sagte hinwieder:

„Das soll nicht sein, daß mein Grab Gottes Grab übertreffe!“

Und alsobald übergab er sein Grab unserm Herrn Gotte, daß man forthin den Heiland am Karfreitage darein lege.

Und jetzt erst befahl er dem Meister, daß er es recht schön machen solle, noch weit schöner und reicher als es zuerst werden sollte. Sich selbst aber ließ der demütige Bischof ein anderes, einfacheres Grab bereiten.

Warum wird diese Kapelle als gesamtes Kunstwerk angesehen? Ursprünglich als Denkmal und Grabstätte für seine sterblichen Überreste vorgesehen, scheute Bischof Berthold II. von Bucheck keine Kosten, um sie für seine letzte Ruhestätte errichten zu lassen. Die sehr geräumige Katharinenkapelle vereinte von Anfang an Glasfenster, Skulpturen, Wandmalereien und innovative Architektur in Form eines Sterngewölbes mit wahrscheinlich hängendem Schlussstein. Sie war also eine wahre Augenweide – aber auch Ausdruck der Eitelkeit eines Klerikers mit seinen allzu menschlichen Zügen, wenngleich er der Legende nach letztendlich zur christlichen Demut zurückfand.

Man beachte: Die Kapelle, die wir heute bewundern, ist nicht mehr diejenige, die von diesem Bischof erbaut wurde. Zeit, Geschmack, Bräuche und Geschichte haben ihren Teil zu den Änderungen beigetragen. Das heutige geschwungene Gewölbe etwa, ist erst zwei Jahrhunderte nach dem Bau der Kapelle entstanden, ganz zu schweigen von dem vor Kurzem geschaffenen und kontrovers diskutierten sogenannten „Glasfenster der hundert Gesichter“.

Wie Schneegans zu berichten weiß, befand sich in dieser Kapelle ein Heiliges Grab. Warum?

Ein Rückblick in die Geschichte schickt sich hier. Von jeher genieß das Heilige Grab von Jerusalem ein doppeltes Ansehen. Das Gebäude wurde an der Stelle errichtet, an der Christus vom Kreuz abgenommen und begraben worden sein soll, was es zum allerheiligsten Ort des Christentums werden ließ. Darüber hinaus ordnete Kaiser Konstantin im Jahr 325 den Bau einer Kirche an, einschließlich einer an einer Basilika angrenzenden Rotunde. So verbinden sich Religion und Geschichte und machen dieses Gebäude zu einer Hochburg für christliche Pilgerfahrten.

Zurück von den Kreuzzügen und gezeichnet von all dem, was sie in Jerusalem gesehen hatten, wetteiferten Aristokraten und hochrangige Geistliche darum, überall in Frankreich und anderen Ländern Denkmäler zu erbauen, die fortan auch „Heiliges Grab“ genannt wurden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Straßburger Münster auch eine solche Gedenkstätte besitzt.

Was wissen wir über dieses Straßburger Denkmal, das im 17. Jahrhundert abgebaut wurde und dessen Fragmente nun im Museum des Œuvre Notre-Dame aufbewahrt werden? Das Denkmal war das Prunkstück der Kapelle. Es bestand aus dem unter einem dreibogigen Baldachin gelegenen Sarkophag Christi, umgeben von den drei Frauen, die am Morgen seiner Auferstehung an seinem Grabe anwesend waren, sowie mindestens einem Engel. Der Sarkophag war mit Skulpturen verziert, die unter anderen die in der Nähe des Grabes schlafenden römischen Soldaten darstellten. Diese Darstellungen hoben sich sowohl in ihrer Anzahl als auch in ihrer Ikonographie von anderen zeitgenössischen Werken ab. Dies trifft zum Beispiel auf „die große Seitenplatte [zu], [worauf] zwei Wärter nebenaneinander dargestellt sind. Der erste, der merkwürdiger Weise auf seinem linken Fuß sitzt, schreit voller Überraschung auf; er weckt seinen Gefährten und spricht gleichzeitig den Zuschauer an, indem er mit dem ausgestreckten Finger seine Aufmerksamkeit nach oben lenkt.“ Kurz gesagt, diese „in Furcht versetzten Soldaten [werden] aus dem Schlaf gerissen, und nicht einfach nur schlafend oder wach dargestellt, wie es die traditionelle Ikonographie vorsieht[1].“

Kapelle und heiliges Grab schlugen also damals gemeinsam den Weg der Innovation ein.

Louis Schneegans, Strasburger Münster-Sagen
Zusatz: Francis Klakocer
Foto: Wiederherstellung: S. Aballéa. Zeichnung: M. Jordan


[1] Siehe Sylvie Aballéa, Les saints-sépulcres monumentaux du Rhin supérieur et de la Souabe, (PUS), ganz besonders § 107-108

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