Zu Erwins Zeit, als man am Münster baute, und die Fuhrleute herbei eilten, von nah und fern, bis tief aus Oesterreich und aus andern weit entlegenen Ländern, um die Steine herbeizuführen zum Baue, aus Unserer Lieben Frauen Grube im Kronthale, da kam auch Einer daher gezogen aus Ungarn, mit einem großmächtigen Büffel oder Auerochsen, so groß wie man einen nie zuvor gesehen hatte in den Ländern am Rheine.
Was aber mehr noch als die kolossale Gestalt des Büffels selbst allgemeines Erstaunen erregte, das waren die gewaltigen Hörner, welche des Riesenthieres Stirne trug. Stark gekrümmet in der ganzen Länge und scharf zugespitzet am Ende, stund jedes der Hörner beinahe sieben Schuhe weit hinaus von dem Kopfe des Ochsen.
Die Kraft und die Gewalt des Thieres waren ganz in Verhältniß zu seinem gigantisch-gegliederten Körperbaue. Allein für sich zog der ungarische Büffel eine weit schwerere Ladung und Last als sonst eine Gespänne Pferde oder Ochsen zusammen. Mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit schleppte er die schwersten Steinblöcke davon, und endlos war die Zahl der Quaderstücke, die er, aus dem Kronthale bis auf den Fronhof, herbeiführte zum Dombau. Auch kannte Jedermann zu Straßburg den gewaltigen ungarischen Ochsen, und um die Wette pries man die unvergleichliche Muskelkraft des fremdartigen Riesenthieres.
Und als, nach vieljährigem Ziehen und Schaffen, der Büffel starb, da hing man das eine seiner gigantischen Hörner auf im Münster, zum Andenken und zur Bewunderung der kommenden Geschlechter. Und lange Jahrhunderte hindurch hing an einer Kette das klafterige, krumme, hohle und spitze Horn des ungarischen Auerochsen, an der Säule, welche die Gewölbdecke des nördlichen Kreuzarmes trägt, ehemals der alten steinernen Pfarrkanzel gegenüber und dem reichgeschmückten Taufsteine.
Das Horn, auf welches sich diese Sage bezieht, gab in ältern Zeiten zu den verschiedenartigsten Vermuthungen Anlaß.
Dem, wie es scheinet am meisten verbreiteten Volksglauben zu Folge wollte man eine Greifenklaue in demselben erkennen.
Gesner in seiner Historia animalium quadrupedum (S.126) erklärte schon dieses berühmte Horn für dasjenige eines Auerochsen, welcher Meinung Schadäus ebenfalls beistimmet in seinem Münsterbüchlein (S.68): „biß jemand“ sagt er „etwas gewissers davon berichtet.“ S. auch Schilter, in seinen Anmerkungen zu Königshoven (S.568)
Dieses Horn war gebogen, hohl und spitz. Seine Länge betrug 6 Schuhe und acht Zoll. Der dickere Theil maß 41/2 Zoll im Durchmesser. Von da hinweg, bis zum andern Ende, spitzte sich dasselbe allmählich zu in Form eines Halbzirkels. Samt der Kette wog das Horn dreißig alte Strasburger Pfunde.
Die soeben mitgetheilte Sage erwähnt Grandidier, doch nur mit kurzen Worten (S.262). „Die einen“, sagt er, „sehen darin eine Greifenklaue – was fabelhaft ist. Andere sagen, es sei das Horn eines ungarischen Büffels, der die Steine zum Erbauen des Münsters schleppte. Letzteres ist auch nicht besser belegt.“ Auch Grandidier, welcher das Horn noch gesehen, erklärte dasselbe für dasjenige eines Auerochsen. Es ist dieses Horn nicht mit einem andern Horne zu vergleichen, welches sich, ebenfalls bis auf die Revolutionszeit, in dem Domschatze des Münsters befand, und auf welches sich eine andere Sage beziehet, die auch hier mitgetheilet werden soll.
Louis Schneegans, Strasburger Münster-Sagen
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