Vor einem sehr zahlreichen Publikum hielt Jean-Paul Lingelser, langjähriger Präsident des Münstervereins, den ersten Vortrag dieser Saison. Er beschäftigte sich mit den Darstellungen am Mittelportal des Münsters, beschränkte sich allerdings auf die Standfiguren am Gewände, das Tympanon sowie den Mittelpfeiler. Die hochkarätigen Fotografien waren dem Publikum besonders hilfreich, um den detaillierten Ausführungen folgen zu können.
Was die 14 Standfiguren angeht, bei denen es sich größtenteils höchstwahrscheinlich um Propheten des Alten Testaments handelt, ging es insbesondere um die Figur eines bartlosen jungen Mannes am linken Gewände, den einige Autoren als „Meister Erwin“ identifizieren – eine offenbar nicht haltbare Interpretation, schon da kein Attribut eines Architekten vorhanden ist. Es handelt sich wohl eher um den antiken Dichter Virgil, der von Augustinus als ‚profaner Prophet‘ bezeichnet wurde. Problematisch ist die Identifizierung einer weiteren Figur, der einzigen, deren Gewand von einem Gürtel gehalten wird, was eigentlich ein weibliches Indiz ist. Es muss wohl offenbleiben, ob es sich dabei wirklich, wie vermutet, um die Sibylle von Cumae handelt.
Die vier Register des mittleren Tympanons präsentieren eine sehr reich ausgeschilderte ‚Erzählung‘ der Leidensgeschichte Jesu, seiner Auferstehung und Himmelfahrt, mit dem zentralen Motiv der Kreuzigung – was an gotischen Tympana eher selten ist. Die meisten Episoden können mit einem oder mehreren Evangelien in Zusammenhang gebracht werden. Einige jedoch entstammen apokryphen Texten oder später entstandenen Traditionen, z.B. der „Ecce homo“ (Christus bei der Geißelung an der Säule), ein ikonografisches Motiv, das erst im 13. Jh. auftaucht. Die geografische Nähe und die bedeutende Rolle der Dominikaner, die das Mit-Leiden und die Sühne in den Vordergrund ihrer Seelsorgearbeit stellten, erklärt wohl diese und andere Darstellungen, so die Rückengestalt eines Kapuzenträgers (wohl eines Dominikanermönchs), der bei der Kreuztragung das Kreuz verehrungsvoll zu berühren scheint. Andererseits sind in den skulpturalen Darstellungen sowie in mehreren Glasfenstern einige stark antijüdische Elemente auffällig, z.B. die an spitzen Hüten erkennbaren Juden bei der Dornenkrönung – laut Evangelien wurde Jesus von römischen Soldaten misshandelt. Weiterhin die Figur der Synagoge neben dem Kreuz, eine kleine Replik der berühmten Figur vom Südportal, allerdings ist es am Westportal der Schwanz eines Drachens, der ihr die Augen verdeckt.
Der Reichtum an Details findet sich ebenfalls im 3. Register: links ist eine sehr drastische und volkstümliche Darstellung der Vorhölle zu sehen, wo der weit aufgerissene Rachen des Leviathans den Eingang zur Hölle markiert, bewacht von einem (männlichen) Ungeheuer, das sich im Vordergrund auf dem Rücken liegend zu amüsieren scheint, sowie seinem weiblichen Pendant, das sich um den Kessel schlingt und unter Schmerzen dabei ist, ein weiteres ‚Familienmitglied‘ zu gebären. Geführt von Jesus Christus hat Adam die Schwelle zum Paradies schon überschritten, Eva befindet sich noch in der Vorhölle, doch Adam zieht sie hinter sich her. Die Geschlechterrollen sind klar verteilt. Rechts sieht man zunächst ein „Noli me tangere“ in einer klassischen Außenszene mit Maria Magdalena (der Patronin der Dominikaner), sodann in einem Innenraum die virtuos dargestellte Versammlung der elf Apostel, die die Szene des „ungläubigen Thomas“ bilden. Vor dem Tor sitzt ein Hund, vielleicht ein weiteres Element, das symbolisch auf die Dominikaner verweist. Das vierte Register mit der Himmelfahrt Christi wurde nach der Zerstörung in der Revolution vollständig erneuert. Das gilt auch für die Madonna am Trumeaupfeiler, die zusammen mit der ebenfalls erneuerten Petrusfigur auf der Innenseite des Pfeilers vielleicht als eine Art Manifest im Investiturstreit gelesen werden könnte: als Symbol für die Überlegenheit der Kirche gegenüber dem Kaiser.
Sabine Mohr
Ill. : Edelseider / Wikimedia