In einem gemeinsamen Vortrag am 16. März 2022 – genau am 2. Jahrestag des ersten Lockdowns – legten Vertreter der „Fondation de l‘Oeuvre Notre Dame“ und der „Fabrique“ des Münsters, der Konservator für Denkmäler sowie der leitende Architekt Rechenschaft über ihre Aktivitäten am Münster in den Jahren 2020 und 2021 ab. Alle betonten den pandemiebedingt außergewöhnlichen Kontext, wie auch den Personalwechsel in mehreren leitenden Ämtern wie „archiprêtre“ (der Münsterpfarrer), „architecte des bâtiments de France“ und Konservator. Allerdings kamen die Arbeiten am Münster in diesen beiden Jahren nicht zum Erliegen.
Die seit 2012 andauernde Restaurierung der südlichen Querhausfassade sowie der Seitenfassaden dieses Querhausarms und der anschließenden Strebepfeiler wurden im Februar 2021 zum Abschluss gebracht. Die Leitung dieser sehr umfangreichen Baustelle oblag dem „Oeuvre Notre Dame“ für die Steinmetz- und Bildhauerarbeiten, und dem Staat für die Restaurierung der Glasfenster und der Überreste der Farbfassung (in Teilen aus dem späten 15. Jh.). Bei den Arbeiten am Stein beschränkte man sich so weit wie möglich auf Ausbesserungen – entsprechend den Richtlinien der Restaurierung von Denkmälern wurden Bauteile nur ausgewechselt, wenn dies unumgänglich war. Die Statue des Baumeisters Erwin aus dem 19. Jh. z.B. wird nach ihrer Restaurierung in der Werkstatt des „Oeuvre Notre Dame“, wobei auch Gipsabdrücke zur Ergänzung der Gipsabguss-Sammlung angefertigt wurden, ihren angestammten Platz wieder einnehmen, während der Sockel (ca. 2,5t Gewicht) in Handarbeit (mehr als 1500 Stunden) in einen monolithischen Block neu gemeißelt wird (Neuaufstellung voraussichtlich im September 2022).
Zahlreiche andere Elemente aus Sandstein wurden überarbeitet und in ihrer Substanz stabilisiert. Die Schäden gehen meistens auf Witterungseinflüsse und die zersetzende Einwirkung der Salze zurück, die in beton- oder zementlastigen Fugenmörteln erhalten sind.
Dies gilt insbesondere auch für das zweite große Restaurierungsvorhaben, das momentan im Gange ist: das Laurentiusportal aus der Zeit um 1500 an der Nordquerhausfassade. Ziel ist vor allem die Wiederherstellung der Abdichtung der Flachdachterrasse sowie die Sanierung der durch die Betondecke der 60er Jahre des 20 Jhs. kontaminierten Gemäuer. Wie auch am südlichen Querhaus dient die zweijährige Forschungs- und Planungsphase dazu, praktische Entscheidungen vorzubereiten, aber auch bauarchäologische Erkenntnisse zu gewinnen – ein erster Befund betrifft z.B. gewisse Inkohärenzen zwischen den virtuosen, großformatigen Figuren und den für sie vorgesehenen kleineren Gewänden. Des Weiteren sollen auch Fortschritte in der Technik der Datierung der Metallelemente gemacht werden: zusätzlich zu der Altersbestimmung des Holzes, die in unseren Breiten auf das Jahr genau möglich ist, sowie derjenigen des Sandsteins, der durch Archivmaterialien, Steinbearbeitungspuren und Steinmetzzeichen datiert werden kann, soll in Zusammenarbeit mit der Ingenieurschule INSA die Datierung der von Baubeginn an verwendeten Metallteile ermittelt werden – was ein großer Fortschritt wäre. Auch ein 3D Scanner soll angeschafft werden.
Ein interessanter Fund durch Sabine Bengel, die Kunsthistorikerin an der „Fondation de l’Oeuvre Notre Dame“, ist eine kleine Engelsfigur im Depot des „Musée de l’Oeuvre Notre-Dame“, die möglicherweise am Laurentiusportal oberhalb der Madonnenstatue angebracht war. Eine derartige Skulptur ist nämlich auf Darstellungen des Portals vor der Revolution (insbesondere auf einem Stich aus dem 17. Jh.) zu erkennen. Über eine definitive Wiederanbringung einer Kopie dieser Skulptur wird beraten.
Das dritte Restaurierungsvorhaben, das schon in Vorbereitung ist, betrifft die romanische Vierungskuppel, die seit dem 19. Jh. außen von der „Tour Klotz“ überfangen wird. Während die Dachgestaltung aufgrund von Bränden und Kriegseinwirkungen zahlreiche Veränderungen erfahren hat, ist der Baubestand der aus Ziegelsteinen gemauerten Kuppel innen der romanischen Bauphase vom Ende des 12. Jhs. zuzuordnen – gehört also zu den ältesten Teilen des Münsters. Ziel ist sowohl eine bauliche Sanierung als auch eine ästhetische Aufwertung. Unter dem Architekten Gustave Klotz war der Putz aus der Erbauungszeit entfernt, aber eine damals vorgesehene Neugestaltung nicht umgesetzt worden, weshalb das heutige Erscheinungsbild nicht zufriedenstellend ist. Die Kosten für das Gerüst und andere Sicherheitsvorrichtungen betragen etwa die Hälfte des vorgesehenen Budgets. Die die Kuppel (außen) überziehende zementhaltige Mörtelschicht soll entfernt sowie die Turmarkaden zwecks einer besseren Durchlüftung wieder vollständig geöffnet werden.
Was die Aktivitäten der Kirchengemeinde („Fabrique“) angeht, wurde der Verkaufsstand im Südquerhaus entfernt und in den „Espace Saint Michel“ verlegt. Der ansprechende und hochwertige Verkaufsraum (der auch für Veranstaltungen genutzt werden kann), steht in gewisser Weise in der Kontinuität der kommerziellen Aktivitäten an der Südfassade des Münsters seit dem Mittelalter. Des Weiteren wurde die Chororgel weitgehend demontiert zwecks ihrer Restaurierung in der Orgelbauerwerkstatt Mühleisen.
In Zusammenarbeit mit der Feuerwehr wurde für das Münster ein umfassender Sicherheitsplan ausgearbeitet, der u.a. vorsieht, welche Kunstwerke wie geschützt werden sollen, z.B. im Falle eines Brandes.
Eine weiterhin offene Frage ist die nach einem Rundgang für Besucher des Münsters, welcher die beiden Chorkapellen, die Chor-Galerie und das Nordquerhaus umfasst. Aus Sicherheitsgründen („Plan Vigipirate“) ist der Zugang zu diesen Bereichen seit Jahren nicht mehr möglich. In all diesen Bauteilen befinden sich bemerkenswerte Kunstdenkmäler, die möglichst bald durch einen öffentlich zugänglichen Rundgang sollen besichtigt werden können. Zuletzt wurde noch darauf hingewiesen, dass man durch die Einrichtung eines Nistplatzes versucht, ein Turmfalkenpaar langfristig auf dem Nordturm zu halten. Turmfalken können sich von ein bis zwei Tauben täglich ernähren…
Sabine Mohr
Ill.: Fondation de l\’Œuvre Notre-Dame