An St. Urbans Tag 1277 hatte Meister Erwin von Steinbach des Münsters Vorderseite, sein glorreichstes Werk, begonnen.
Rasch und gedeihlich stieg der Bau empor, unter des großen Meisters Leitung. Von allen Seiten eilten die Gläubigen herbei zur Hülfe, um den von Bischof Konrad verheißenen Ablaß zu erringen und hiemit die Vergebung der Sünden. Alle Welt, wie unsere Chronikschreiber berichten, wollte selig werden an dem Baue.
Bei den Seinen selbst fand Erwin willkommene, kräftige Unterstützung.
Meister Johannes, des großen Künstlers würdiger Sohn, unterstützte ihn nicht allein am Dombaue. Auch Sabina, die lieblichste der Töchter, stund dem Vater hülfreich zur Seite. Auch sie, die reine kunstsinnige Jungfrau, hatte, gemeinsam mit ihrem Bruder Johannes, des Vaters hohen Genius ererbet und seine Kunst erlernet. In beider Brust glühte die heilige Flamme, und überglücklich sah sich der große Meister verjüngt in seinen Kindern wieder.
Ohne Unterlaß war Sabina beschäftigt, nach besten Kräften zur Ausschmückung des Thurmbaues und des Münsters beizutragen. Manches treffliche Meisterwerk entstand unter ihrer kunstfertigen Hand. Manches liebliche Gebild erschuf sie, die reine Jungfrau, mit dem Beistande Gottes, aus dem rohen, kalten Steine. Aus dem Himmel schöpfte ihr Genius, und die göttliche Gnade, welche die Künstlerin unablässig anrief, während sie arbeitete, wachte getreulich über ihr und gab ihren Bildwerken die höchste Weihe.
Und so geschah es, als man zu gleicher Zeit mit Erwins majestätischer Vorderseite, die beiden Portale auf den Gräten, dem bischöflichen Palaste gegenüber, aufführte, daß hier, ganz ins Besondere, Sabina ihrem Vater auf das Eifrigste beistund mit all ihrer Kunst.
Beide Portale schmückte die kunstsinnige Jungfrau mit den prachtvollsten Standbildern. Triumphierend stellte Sabina die christliche Kirche dar, ein königliches Frauenbild, mit Krone, Kreuz und Kelch; ihr gegenüber das Jüdische Gesetz, mit verbundenen Augen und zerbrochenem Labarum, die Krone zu den Füßen und die Gesetztafeln Mosis in der ohnmächtigen Linken, welche dieselben nicht mehr zu halten vermag, das Gesicht abgewendet vor Traurigkeit, gleich als ertrüge die Geblendete nicht den Blick des ihr siegreich gegenüber stehenden Christenthums. Nahe bei diesen zwei Bildern, auf beiden Seiten in der Vertiefung der Portale, stunden die Apostel, die Gläubigen einleitend in die Kirche, als Zeugen des siegreichen Christenthumes, das sie verkündiget hatten und begründet. Zwischen beide Portale, setzte Sabina Salomo richtend auf dem Throne; über ihm strahlte himmlisch-verklärt des Heilandes Antlitz; und, zu beiden Seiten, in den Giebelfeldern der Portale, stellte die fromme Bildhauerin, in vier trefflichen Bildern, den Tod, das Begräbniß, die Himmelfahrt und die Krönung Mariä dar.
So von Sabinas Hand auf das Herrlichste ausgeschmücket, prangten seitdem beide Portale, Jahrhunderte hin durch, in unvergleichlicher Pracht, weithin gepriesen und bewundert, mit vollem Rechte, als ein wahres Meisterstück der Kunst. Und seitdem auch erhielt sich der Tochter Ruhm vereinet mit des hohen Vaters Glorie. Heutzutage noch gedenket Niemand des großen Meisters, ohne zugleich auch seiner lieblichen, kunstfertigen Tochter zu gedenken, welche seine Werke so wunderherrlich ausgeschmücket. Mit des unsterblichen Meisters glorreichem Namen wird nun fernerhin Sabinas Name forttönen, unzertrennlich, von Geschlecht zu Geschlecht, von Jahrhundert zu Jahrhundert, bis zu der fernesten Nachwelt.
Louis Schneegans, Strasburger Münster-Sagen