Am 16. November 2022 ging es in dem Vortrag von Sabine Bengel, Kunsthistorikerin an der Fondation de l’Œuvre Notre-Dame, nicht nur um die Entdeckung einer Engelsskulptur im Depot des Musée de l’Œuvre Notre-Dame, sondern zunächst auch einmal um das gesamte Portal in seinen kirchengeschichtlichen und kunsthistorischen Dimensionen, und um die laufenden Restaurierungsarbeiten. Der im spätgotischen Stil errichtete Bau steht zwischen den spätromanischen Strebepfeilern des nördlichen Querhauses, auf circa sieben Meter hohen Fundamenten. Seine Entstehung und die verschiedenen Restaurierungsarbeiten vergangener Jahrhunderte sind gut dokumentiert. Der Architekt war Jakob von Landshut, dessen Vater sehr wahrscheinlich als Architekt in dieser bayerischen Stadt Kirchenportale in ähnlicher Formensprache errichtet hat.
Andererseits besteht eine gewisse Unklarheit hinsichtlich der Funktion dieses hinzugefügten Bauteils. Das hängt mit der Tatsache zusammen, dass das dahinterliegende nördliche Querhaus der Gemeinde des Münsterviertels schon seit ottonischer Zeit als Gemeindekirche diente (davon zeugt die erhaltene romanische Altarnische, in der heute der Taufstein steht) und Laurentius geweiht war. Dieser ist auch in dem romanischen Glasfenster über der Altarnische dargestellt). Die ehemalige Martinskapelle (heute Laurentiuskapelle) wurde 1515-1521 am nördlichen Seitenschiff angebaut und diente der Gemeinde als Kirchenschiff, bis man den östlichen Arkadenbogen im 17. Jahrhundert schloss und der Gemeinde die nunmehr zu Laurentiuskapelle umbenannte Martinskapelle zuteilte. Das Laurentiusportal war zur Zeit seiner Entstehung also für die Gemeindemitglieder der direkte Zugang zu ihrem Kirchenraum. Der dahinterliegende Raum diente somit wohl nur als Vorhalle und nicht als eigenständige Kapelle.
Kunsthistorisch gesehen bietet das Laurentiusportal den Höhepunkt der spätgotischen Architektur und Skulptur am Münster. Er ist heute unterteilt in zwei Sakristeien und einen mittleren Durchgang zum Querhaus, war aber als einheitlicher Innenraum konzipiert. Das aufwändige Netzgewölbe, ursprünglich mit Sternen bemalt, weist fünf Schlusssteine auf, drei davon zeigen neben der Mutter Gottes, den hl. Laurentius und das Wappen des Jakob von Landshut. Doch die spektakulärsten Elemente findet man außen: ein reiches Portalfigurenprogramm, und einen vorspringenden, großen und mit Wimpergen bekrönten Baldachin, der ein Tympanon mit der skulptierten Darstellung der Laurentiusmarter überfängt – heute allerdings in einer Restitution von ca. 1830, als Ersatz für das in der Französischen Revolution zerstörte Original. Der verschattete, nicht gut sichtbare Bereich unter dem Baldachin ist dennoch reich verziert: die innere Gewölbefläche des Baldachins zeigt als Flachrelief gehauene Sterne, darüber hängt ein durchbrochen gearbeitetes Maßwerkgewölbe. Über dem Tympanonfeld haben sich zwei balkonartige Elemente erhalten, auf deren Brüstung noch beringte Hände und Gewandteile erkennbar sind: wahrscheinlich waren es die Büsten von Kaiser Decius und des Präfekten Valerian, die während der Christenverfolgung den römischen Archidiakon Laurentius auf einem Rost zu Tode foltern ließen. Im Mittelalter besaß das Münster eine von Karl dem Großen geschenkte Reliquie, ein Stück dieses Rostes, an den ein echter Rost direkt hinter dem Laurentiusportal auf dem Boden des Eingangsbereichs anspielte. Die einzige noch im Original erhaltene Skulptur ist ein kleiner segnender Christus in der Mitte vor dem Tympanon. Während die fünf großen Portalfiguren rechts eine Reihe von Märtyrer-Heiligen darstellen, bilden die Figuren links eine Gruppe bzw. eine Szene, die man mehrfach im Münster sehen kann: es ist der Zug der Heiligen Drei Könige, die vor Maria mit dem Kind erscheinen. Oberhalb Mariens erkennt man auf der Wand einen sog. „Schatten“ und die Reste einer Verankerung, die genau zu einer kleinen Engelsfigur passen, die auf alten Darstellungen von vor der Revolution zu erkennen ist: sie hielt wohl den Stern, der die Könige führte. Diese Ikonografie wurde in Straßburg wie im ganzen Rheinland populär nach der festlichen Überführung der Reliquien der Heiligen Drei Könige von Mailand nach Köln durch Kaiser Friedrich Barbarossa. Der Engel, wenn auch klein, ist ein zentrales Element dieser Szene und findet sein Echo in den schon erwähnten Sternendarstellungen. Er ist sehr fein gearbeitet, aus einem vergleichbaren Sandstein wie die kleine Christusfigur. Bedeckt mit einem Mantel und mit großen Flügeln ausgestattet weist der Engel einen gefiederten- bzw. geschuppten Körper auf, ein häufiges anzutreffendes Motiv bei spätmittelalterlichen Engelsdarstellungen.
Die Entdeckung der Engelsfigur wurde möglich durch die öffentlich zugängliche Datenbank der im Steindepot des Museums aufbewahrten Skulpturen. Mehrere Kunsthistoriker hatten sie schon bemerkt und mit den am Münster tätigen Bildhauern der Spätgotik in Zusammenhang gebracht. Sabine Bengel bekräftigt, auch aus stilistischen Gründen, eine Zuschreibung des Engels an den Bruder des für das Portal dokumentierten Bildhauers Conrad Sifer (Syfer/Seyfer), d.h. Hans Sifer (Hans von Heilbronn), von dem in Straßburg auch eine Madonna erhalten ist (die sog. Madonna aus der Kalbsgasse / rue des Veaux), und dem möglicherweise auch das hohe Sakramentshaus in der Stiftskirche von Baden-Baden zugeschrieben werden kann. Dieses weist neben den Initialen H.S. ein Steinmetzzeichen auf, welches sich auch am Laurentiusportal findet.
Die verschiedenen Verantwortlichen des Denkmalschutzes sowie Fachleute sind sich einig, dass der Engel aller Wahrscheinlichkeit nach aus diesem Kontext stammt. Er wurde wohl während der Revolution gerettet, wie auch die großen Figuren. Im Zuge der Restaurierungsarbeiten soll eine Kopie aus Stein angefertigt und am Portal eingefügt werden. Durch glückliche Umstände konnte für die Finanzierung dieser Arbeiten eine Mäzenin gefunden werden.
Sabine Mohr
Ill. : Fondation de l\’Œuvre Notre-Dame