Moritz von Schwind und der Mythos Sabina

Als Maler Wiener Herkunft zeichnete sich Moritz von Schwind (1804-1871) an der Karlsruher Akademie, auf Schloss Hohenschwangau in Bayern und auf der Wartburg aus. Seine Vorliebe für mittelalterliche Szenen fand in diesem Gemälde von 1844 eine Umsetzung, das unter dem Titel Sabina von Steinbach an der Figur der „Synagoge“ für das Straßburger Münster arbeitend bekannt ist. Nun könnte man sich in der Tat fragen, wie dieses Gemälde zur Ausbreitung bzw. Erweiterung des Mythos von Sabina beiträgt?

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Der erste Hinweis liegt auf der Hand: Der Maler hat die traditionelle Darstellung umgedreht. Zwei der Hauptprotagonisten, die am Bau des Münsters beteiligt waren, erscheinen zwar auf dem Gemälde, allerdings nur im Hintergrund. Meister Erwin, der Legende nach Sabinas Vater, beugt sich über eine seiner Zeichnungen, um sie Bischof Konrad zu erläutern, der sie in der Hand hält. Sie stehen vor dem Münster, dessen fertiggestellte Rosette zu erkennen ist, womit das Werk des gefeierten Meisters indirekt gewürdigt wird. Angesichts der Gesetze der Perspektive und des Abstands zu Sabina sind sie kleiner als die Bildhauerin und nehmen nicht einmal ein Drittel des Bildes ein.

Sabina dagegen wird im Vordergrund dargestellt. Durch ihre starke Präsenz ist sie für den Betrachter sofort erkennbar. Sie allein wird von vorne abgebildet, die anderen Menschen werden von hinten, im Profil oder in einer Drei-Viertel-Perspektive gezeigt. Auf einem Steinblock sitzend, Hammer und Meißel in der Hand, formt sie eine auf einem Holzsockel stehende Statue. Die Steinfigur hat bereits ihre traditionellen Attributen: Dank der verbundenen Augen, des zerbrochenen Speers und der hängenden Gesetzestafeln erkennen wir sofort die Synagoge, eine Skulptur, die der Legende nach – zusammen mit der Ecclesia – Sabina zugeschrieben wird. Die Figur hebt sich in Umrissen aus dem noch unvollendeten Steinwerk heraus. Die Hände sind grob skizziert, der Schaft des Speers ragt noch nicht ganz aus der Masse des Steinblocks hervor, abgehauene Steinbröckchen häufen sich zu Füßen der Statue. Mit gebeugtem Kopf und dem Blick auf ihre Werk gerichtet, widmet sich Sabina ganz ihrer Arbeit, die sie trotz des beträchtlich hohen Besuchs an ihrer Arbeitsstätte weiterführt.

Damit ist sie die würdige Tochter ihres Vaters, dessen Arbeit sie tüchtig unterstützt. Sie wird auf der Baustelle inszeniert, im Hintergrund ist zwischen Steinblöcken eine Hütte zu sehen, vor welcher ein sitzender Bildhauer arbeitet. Die Wand hinter ihr dient zwar vor allem als Kontrast, um sie hervorzuheben, doch wird sie dadurch auch in die Baustelle eingefügt, auf der sie all ihre Tage verbringt. Ein Kompass hängt an der Wand, eine Hand liegt auf einem Regalbrett neben einer Büste. Wenn diese Hand als Studie für die Statue angesehen werden kann, so ist die Büste dagegen merkwürdiger. Ihre Anwesenheit an diesem Ort gilt als ein Zeichen der Abstammung, denn sie weist eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Vater Meister Erwin auf, und sei es nur wegen der vergleichbaren Kopfbedeckung. Gleichzeitig erinnert diese Büste trotz der fehlenden Arme eindringlich an die Büste Mannes, der sich am Geländer des Münsters abstützt, in der wir seit langem das Porträt – manchmal sogar auch das Selbstbildnis – des Meister Erwin vermuten wollen. Daher stellt sich die Frage: Für den Maler, der sie so verherrlicht, wäre Sabina etwa die wahre Schöpferin dieser Büste?

Diese Frage bleibt offen und trägt so zur Erweiterung des Sabina-Mythos bei.

Francis Klakocer. Gegenlesung: Wolfdietrich Elbert
Ill. : Sailko – Wikimedia Commons

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