Die astronomische Uhr des Straßburger Münsters ist das prominenteste und allgemein wohl am besten bekannte Exemplar ihrer Gattung. In ihrer gegenwärtigen Gestalt ist sie jedoch ein Werk des 19. Jahrhunderts – eine höchst komplexe und geniale Konstruktion des Uhrmachers Jean-Baptiste Schwilgué, die jedoch in technischer Hinsicht sehr wenig mit dem zu tun hat, was einstmals im Münster zu sehen war. Nur noch das teilweise veränderte Gehäuse erinnert an die alte Uhr, und sämtliche Bestandteile des Werks wurden in den Jahren 1838/42 entfernt. Immerhin sind einige Reste in das Straßburger Musée des Beaux-Arts gelangt, wo man sie bis auf den heutigen Tag besichtigen kann.
Bereits im 14. Jahrhundert befand sich im südlichen Querschiff des Straßburger Münsters eine astronomische Uhr, die in den Jahren 1352/54 errichtet wurde. Außer dem eisernen Hahnenautomaten hat sich von dieser Uhr nichts erhalten, und ihr Erbauer ist unbekannt.
Unmittelbar nach Einführung der Reformation in Straßburg plante man einen Neubau, wobei 1531/32 zunächst an der südlichen Fassade ein neues Außenzifferblatt angebracht und ein Astrolabium aufgerissen wurde. Gegenüber der ersten Münsteruhr wurde ein im Kern noch heute bestehender, dreigeschossiger Bau mit Wendeltreppe errichtet. Das Neubauprojekt kam jedoch spätestens 1550 zum Erliegen, denn in diesem Jahr fanden Kraft des zwei Jahre zuvor von Kaiser Karls V. erlassenen Interims im Münster wieder katholische Gottesdienste statt.
1571 boten sich die Uhrmacher Isaak und Josias Habrecht aus Schaffhausen dem Stadtrat zur Vollendung der liegengebliebenen Arbeiten an. Der ebenfalls in der Schweiz geborene Straßburger Mathematikprofessor Conrad Dasypodius setzte sich für den Antrag seiner Landsleute ein und wurde vom Rat der Stadt zum Inspekteur der Arbeiten an der Münsteruhr bestellt. Für die bildliche Ausschmückung des Uhrengehäuses zog man den Schaffhauser Maler Tobias Stimmer heran. Das steinerne Gehäuse verschwand nahezu vollständig unter einer Holzverkleidung mit vorgeblendeten architektonischen Elementen und zahlreichen Bildfeldern. Nach einer Bauzeit von drei Jahren wurde die Uhr 1574 schließlich in Gang gesetzt.
Das Räderwerk des Astrolabiums im mittleren Geschoß zeigte die mittleren Bewegungen der Planeten Mars, Jupiter, Saturn, wie auch der (von Astrologen als Quasi-Planeten betrachteten) Mondknoten an, wobei die Zeiger für Merkur und Venus am Sonnenzeiger befestigt waren und ohne Eigenbewegung mit diesem umliefen. Insgesamt handelt es sich um einen ausgesprochen klug konzipierten Mechanismus, doch wird die Marsbewegung stark fehlerhaft angezeigt. Ob sich Dasypodius verrechnet hat oder eine fehlerhafte Ausführung seitens der Gebrüder Habrecht vorliegt, muss offenbleiben.
Die Anbringung des von Tobias Stimmer nach einem Selbstbildnis (Autographon) gemalte Porträt von Copernicus am seitlichen Gewichtsturm hat zu manchen interpretatorischen Irrtümern Anlass gegeben. Dasypodius ließ mit Copernicus einen Astronomen seiner eigenen Epoche an der Uhr bildlich verewigen, und das hängt mit der speziellen Rezeption der kopernikanischen Lehre im 16. Jahrhundert zusammen: In einem Kreis protestantischer Astronomen wurde Copernicus nicht etwa wegen seiner kosmologischen Ansichten, sondern vielmehr als Reformator der ptolemäischen Konstruktionsverfahren geschätzt. Die Konstruktion des Räderwerks für den Lauf der Planeten, in dem die Zahnräder für von einem zentralen Sonnenrad mitgeführt werden, ist entschieden kopernikanisch inspiriert – Dasypodius hielt fest an Ptolemäus in cosmologicis und baute auf Copernicus in mechanicis.
Die beiden deutschen Beschreibungen der Uhr von 1578 und 1580 widmen sich mehr der Vorgeschichte und den „Äußerlichkeiten“ der Uhr, also dem Gehäuse und Bildschmuck. Dagegen besteht der ebenfalls 1580 in Straßburg erschienene Heron Mechanicus von Dayspodius aus zwei Teilen, nämlich einer programmatischen Erörterung über die mechanischen Künste, auf welche die eigentliche Beschreibung der Uhr folgt. Dasypodius hat in seinem Traktat sowohl die Architekturtheorie Vitruvs wie auch technische Schriften griechischer Autoren, speziell der alexandrinischen Mechaniker, verarbeitet. Deren Werke kannte er aus eigener Lektüre und besaß sie zum Teil auch in seiner Bibliothek. Den „Generalschlüssel“ zur Deutung der Münsteruhr hat Dasypodius jedoch an recht versteckter Stelle in einem Kommentar zur Tetrabiblos, dem astrologischen Hauptwerk des Ptolemäus, der Nachwelt mitgeteilt. Daraus geht hervor, dass das Anzeigen- und Bildprogramm die vier von Ptolemäus beschriebenen Methoden zur Ermittlung des Aszendenten (den zu einem bestimmten Zeitpunkt – etwa der Geburt eines Menschen – aufgehenden Grad der Ekliptik) veranschaulicht. Die Straßburger Münsteruhr war in ihrer Grundidee also eine materielle Verkörperung der astrologischen Lehren des Ptolemäus, und daran lässt sich einmal mehr zeigen, wie sehr die Astrologie im 16. Jahrhundert die Geister beherrschte und alle Gebiete des Wissens durchdrang.
Günther Oestmann
Ill. : W. Bulach – Wikimedia Commons