Jedem Straßburger ist die Gestalt der Wilhelmskirche mit ihrem so besonderen Glockenturm sehr vertraut. Sie steht am alten Ufer der Ill. Doch wer hat diese Kirche tatsächlich besichtigt? Der Straßburger Münsterverein hat seinen Mitgliedern diese Möglichkeit unter der Führung vom Kunsthistoriker und Vorstandsmitglied Julien Louis angeboten.
Das Kirchengebäude aus den 14. und 15. Jahrhundert wurde im Laufe der Zeit sehr gut gepflegt und ist bis heute entsprechend außerordentlich gut erhalten. Die eigentliche Gründung reicht nicht allzu weit in die Geschichte der Stadt: Die Kirche wurde in das damalige Sumpfgebiet außerhalb der Stadtmauern errichtet. Sie verdankt ihr Entstehen der Entwicklung des Areals sowie der besonders eifrigen Betriebsamkeit der dort ansässigen Gemüsebauern und der Schiffer in unmittelbarer Nähe des Hafens. Die Ansiedlung des Bettelordens der Wilhelmiten ist bereits 1298 urkundlich erwähnt. Ihre Kapelle wurde 1301 eingeweiht. Doch haben die archäologischen Untersuchungen der letzten Jahre bewiesen, dass diese erste Kapelle nicht das heutige Gebäude ist, dessen Chor „erst“ 1325 errichtet wurde, wie es aus der genaueren Betrachtung des Dachstuhls und der ältesten Teile der Glasfenster hervorgeht. Die rasche Errichtung von zwei Gebäuden so dicht hintereinander, zuerst der Kapelle und gleich danach einer Kirche, zeugt vom Erfolg des Bettelordenskloster, dem zahlreiche Spenden und Dienste zuteilwurden.
Aus dieser früheren Bauphase stammt das schöne Glasfenster, das heute auf der Westseite, damals aber auf der Ostseite angebracht war, das das Leben Jesu darstellt – Geburt, Passion und das glorreiche Leben verflochten in den Zweigen und Ausblühungen eines Jessebaumes. In der heutigen Kapelle hinter dem Chor befindet sich das Doppelgarb der Brüder de Werd. Dieses Grab ist in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich, etwa durch seine – allerdings nicht dem Originalzustand entsprechende – doppelstöckige Anordnung, durch die äußerst sorgfältige Darstellung und insbesondere die detailgetreue Wiedergabe der Waffen, und nicht zuletzt durch die Unterschrift des Bildhauers, Woelflin von Rouffach. Im Elsass ist er der erste Bildhauer, bei dem man den Namen mit einem umfangreichen Werk zusammenbringen kann.
Die Untersuchung des Dachstuhls und der Backsteinmauern ergab, dass das Kirchenschiff in einer zweiten Bauphase errichtet wurde, vermutlich in den Jahren 1450. Die Glasfenster des Schiffes stammen aus den 1460er und 1470er Jahren. Sie sind nur teilweise erhalten und wurden – vor allem im südlichen Teil des Schiffes – stark restauriert. Sie reihen sich in die Frühzeit der strosspurg finster (Straßburger Glasfensters) Manier ein mit Damast-Hintergründen und tiefen Farben. Dargestellt ist das Leben zweier heiliger, das des Heiligen Wilhelm von Aquitanien und das des Heiligen Wilhelm von Malavalle. Das Fenster der heiligen Katharina ist sicherlich etwas jünger: Der Glasmaler verfügte schon über einen bemerkenswerten Sinn für Perspektive und Details und war offensichtlich für Einflüsse sowohl aus Italien als auch aus Flandern empfänglich. In den Jahren 1480 ließen die Mönche den Lettner errichten, der zwar an den Seiten etwas abgehakt wirkt aber dennoch seine wunderschönen Schlusssteine behalten hat, sowie die heute leider sehr beschädigte Vorhalle herrichten. Diese sehr ambitionierte Bauphase endete Anfang des 16. Jahrhunderts mit der Generalsanierung der heute nicht mehr vorhandenen Klosteranlage. Das Holzrelief der Bekehrung des Heiligen Wilhelms in der Kapelle ist wohl das letzte erhaltene Überbleibsel dieser Anlage. Wohl unter dem Druck der Schiffergemeinschaft wurde schon 1534 die protestantische Religion frühzeitig eingeführt. Die neuen Nutznießer des Gotteshauses passten das Gebäude nach und nach den Anforderungen der neuartigen Gottesdienste an. So wurden große Holzemporen gebaut, der Lettner wurde abgebaut, der Altar und die schöne Kanzel im „Knorpel-Stil“ wurden errichtet, der Glockenturm wurde in der Verlängerung der alten Fassade gebaut, die großartige Orgel mit einem von André Silbermann entworfenen Orgelprospekt wurde installiert. Bis heute ist die Wilhelmskirche ein Begriff für die liberale protestantische Gemeinschaft Straßburgs und bekannt für die dort stattfindenden Konzerte – nicht zuletzt Dank des Einsatzes der Familie Münch, die insbesondere im Bereich des Chorgesangs die Zusammenstellung herausragender Konzertprogramme ermöglichte.
Julien Louis
Übersetzung: Stéphanie Wintzerith
Abbildung: Roland Moeglin