Am 10. Mai 2023 sprach die Kunsthistorikerin Anne-Doris Meyer in dem vollbesetzten Münsterhof-Saal über die Ergebnisse einer österreichisch-französischen Forschergruppe, die sich drei Jahre lang mit der Rettung des nördlichen Turmpfeilers zu Beginn des 20. Jahrhunderts befasst hat. Die handschriftlichen oder gedruckten Dokumente wurden in vielerlei Hinsicht untersucht, wobei es nicht nur um den genauen Ablauf oder generell die technisch-wissenschaftlich Seite der Arbeiten ging. Behandelt wurden auch komplementäre Aspekte wie die intellektuellen Voraussetzungen dieser spektakulären Rettungsaktion, die Finanzierung, die Wechselbeziehungen zwischen den intervenierenden Personen, die Rolle der administrativen Entscheidungsträger, die Rolle der Presse, der Werdegang der Arbeiter, überhaupt der sozioökonomische und politische Rahmen. In Anbetracht der Vielzahl der Aspekte konzentrierte sich Anne-Doris Meyer in dem Vortrag auf drei Themen.
Zunächst ging es um das 500 Seiten starke Baustellentagebuch, ein Manuskript, das die Ergebnisse von 1906 bis zum Abschluss der Arbeiten 1926 verzeichnet. Das ausschließlich auf Deutsch verfasste Dokument weist sieben verschiedene Handschriften auf, von denen bis jetzt nur sechs einem Verfasser zugeordnet werden konnten, zu denen keiner der beiden Münsterarchitekten gehört. Die ersten 50 Seiten wurden höchstwahrscheinlich erst nachträglich, wohl zu Beginn der eigentlichen Arbeiten 1912, geschrieben; als Verfasser konnte der seit 1912 im Werk Unser Lieben Frau tätige Charles Freyermuth identifiziert werden: der Bericht ist lückenhaft und unrealistisch linear, wenn man bedenkt, dass der Münsterarchitekt Johann Knauth zwischen 1906 und 1909 zunächst nicht wusste, auf welche Ursache die Risse im ersten Langhauspfeiler der Nordseite zurückzuführen waren. Im Vergleich zu dem in der Tat tastenden Voranschreiten von Knauth präsentiert dieser erste, relativ kurze Teil des Tagebuchs einen resümierenden Ablauf der wichtigsten, im Endeffekt zielführenden Schritte, ohne auf Zweifel und Rückschläge einzugehen. Insbesondere wird die erste Hypothese von Knauth, wonach das Problem vom ersten Pfeiler des Schiffs ausging, was sich 1909 dann als Fehleinschätzung herausstellte, nicht erwähnt. Zusätzlich werden auch periphere Fakten genannt, bezüglich der Verträge und der Finanzierung, die im zweiten, weitaus größeren Teil nicht mehr zur Sprache kommen. Ab Februar 1912 wird das Tagebuch dann zur Primärquelle, da es ausschließlich den Fortgang der Arbeiten beschreibt, allerdings ohne auf deren Beweggründe oder vorbereitende Überlegungen usw. einzugehen. Auffällig ist, dass die ab Seite 53 eingeführte, baustelleninterne Terminologie zur Benennung der genauen Orte, der Werkzeuge usw. bis zum Ende beibehalten wird. Dieses Tagebuch ist als internes, nicht zur Veröffentlichung gedachtes Dokument zu interpretieren, denn auch epochale Veränderungen im politischen Bereich erscheinen nur indirekt, wie z.B. der Kriegsbeginn 1914 durch die ergriffenen Schutzmaßnahmen – oder überhaupt nicht, wie das Ende des Kriegs 1918. Selbst die ‚Ablösung‘ von Knauth durch den neuen französischen Münsterarchitekten Clément Dauchy 1922 wird nicht als solche thematisiert, der Abschluss der Arbeiten am 26.6.1924 nur lakonisch notiert.
Im zweiten Teil des Vortrags ging es um Quellenlage betreffs der für die Rettung des Pfeilers entscheidenden Pilotphase, zwischen 1906 und 1909, während der Knauth schrittweise eine Erklärung, dann eine Lösung für das Problem suchte. Nach einer ersten Expertise zur Baustatik im Dezember 1906, Diskussionen mit Fachleuten vom Baugewerbe und einer zweiten Expertise zur Statik im Februar 1909 (beide Dokumente sind nicht erhalten und die Ratschläge der Statiker unbekannt) adressiert Knauth im April 1909 endlich einen detaillierten Bericht an den Bürgermeister, der drei Restaurierungsvorschläge enthält. Die Stadt wählt den aufwändigsten und teuersten Weg, und beauftragte vier auf Eisenbeton spezialisierte Bauunternehmen, binnen drei Monaten Lösungsvorschläge auszuarbeiten. Die Regeln dieser Ausschreibung sind nicht zu vergleichen mit der heutigen Vorgehensweise. Die Firma Wagner legt den bei Weitem ausführlichsten, 15 Pläne beinhaltenden Bericht vor, doch auch mit den Ingenieuren der drei anderen Unternehmen hält Knauth mehrmals Rücksprache, wohl auf der Suche nach einem möglichst breit gefächerten Spektrum von Lösungsmöglichkeiten. Die Verantwortlichen bei der Stadtverwaltung können sich nicht für eine der beiden interessantesten Firmen – Wagner und Züblin – entscheiden, so dass diese im Oktober einen Vertrag über ihre Zusammenarbeit bei der Rettung des Münsters unterzeichnen. Die eigentlichen Arbeiten beginnen dann im Januar 1912.
Der dritte Teil des Vortrags befasste sich dann mit der Arbeit des sogenannten „Pfeilerbüros“. In der Tat kamen Knauth und die Vertreter der beiden Firmen regelmäßig, wenn auch je nach Bauphase in mehr oder weniger großen Abständen, zu Beratungen zusammen, über die von allen Anwesenden parafierte Berichte erstellt wurden. Die hier diskutierten und gemeinsam getroffenen Entscheidungen dienten dann in einem gewissen zeitlichen Abstand als Leitfaden für das ausführende Personal. Deshalb stimmen die Chronologien des „Tagebuchs“ und der Beratungsberichte nicht unbedingt überein. In der für die Durchführung der Arbeiten entscheidenden Phase zwischen 1912 und 1914 finden sich im Archiv des Frauenwerks 14 Berichte mit über 200 Plänen, auf denen Anmerkungen zu lesen sind: z.T. sind sie als „ungültig“ gekennzeichnet, oder sie sind gemeinsam parafiert und so als bewilligt zu erkennen. Alle wurden abgelegt, d.h. man legte Wert auf eine ausführliche Dokumentation der Restaurierungen. Im Juni 1914 scheint die intensivste Planungsphase mehr oder weniger abgeschlossen zu sein, denn das nächste Treffen findet erst im November 1917 statt, und danach erfolgen diese alle ein bis zwei Jahre. Nach dem Krieg, und der Ausweisung Knauths, wird Dauchy neuer Münsterarchitekt, und das Ministerium stellt ihm zwei Ingenieure zur Seite, die sich aber offensichtlich nicht aktiv an den weiteren Planungen beteiligen. Die Rückkehr zu Frankreich ist andererseits geprägt von einer auffälligen Vervielfältigung der mit den Arbeiten einhergehenden Verwaltungsakte. Dauchy ließ offensichtlich die Berichte des „Pfeilerbüros“ sowie die Anmerkungen auf den Plänen für Dokumentationszwecke übersetzen, obwohl er selbst Deutsch sprach.
Die Quellenlage zu den an der Restaurierung beteiligten Arbeitern des Frauenwerks ist außergewöhnlich gut: eine vollständige Serie von Arbeitsbüchern enthält in einer separaten Spalte alle Steinmetzarbeiten, die mit der Arbeit am Nordturm zusammenhängen, eine andere Serie die genaue Auflistung der Arbeiten aller anderen Berufsstände – Maurer, Zimmerleute, Schmiede usw. Auch hier zeugt eine eigene Spalte für die genaue Trennung dieses Budgets von den laufenden Arbeiten. Bemerkenswert ist, dass die Finanzierung der Restaurierung schon von 1906 an gewährleistet ist, noch bevor die genaue Analyse des Problems und die Planung der Vorgehensweise abgeschlossen sind. Der Übergang 1919 erfolgt ebenfalls nahtlos. Die Stadt beteiligte sich zu einem Fünftel, der deutsche, dann der französische Staat zu 4/5, und zusätzlich steuerte das Frauenwerk Finanzmittel, Kompetenzen und Arbeitsstunden bei. Da die Arbeiter namentlich und in ihrer Stellung verzeichnet sind, konnten Rückschlüsse über deren soziales Umfeld gezogen werden. Der Antrag auf eine Gehaltserhöhung 1913 lässt auf sehr schwierige Arbeitsbedingungen in den Gruben rund um die Pfeilerfundamente schließen. Nur die ungefähre Zahl der Arbeiter des Frauenwerks – zwischen drei und zehn am Tag – ist bekannt, nicht die der beteiligten Firmen. Interessanterweise wird auch die Aufsichtsarbeit von je drei Angestellten des Frauenwerks am Sonntag, rund um die Baustelle im Innern des Münsters mit dem Pfeilerbudget verrechnet. Größere Unfälle sind in den Quellen nicht verzeichnet, nur drei kleinere Vorkommnisse. Der Suchbegriff „Calameo Knauth“ erlaubt den Zugriff auf die bereits digitalisierten Quellen, die deutsche Transkription und bald auch die französische Übersetzung des Baustellentagebuchs sowie die Fotos, die besonders hilfreich zur Datierung der Arbeiten sind, da sie alle genau datiert sind. Leider sind keine firmeninternen Archive bekannt, obwohl die Straßburger Firma Wagner bis in die 60er Jahre aktiv blieb. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Quellenlage sehr gut ist, die Dokumente sind zahlreich und aufschlussreich, und stehen nun zur weiteren Erforschung zur Verfügung.
Sabine Mohr
Ill. : Fondation de l\’Œuvre Notre-Dame