Die beiden Mediävisten Thomas Brunner (Unistra) und Olivier Richard (Universität von Fribourg, Schweiz) untersuchen seit einigen Jahren – im Rahmen des französischen Forschungsprojekts Sigilla – die Siegel des Mittelalters im Elsass (im Internet unter Sigi-Al zu finden). Mit Hilfe von etwa 60 ehrenamtlichen Mitarbeitern werden überall im Elsass Siegel ausfindig gemacht, fotografiert und kommentiert ins Internet gestellt. Bis Mitte Januar waren es ca. 9300 Siegel, d.h. Siegelabdrücke, da die Stempel in der Regel aus rechtlichen Gründen zerstört wurden, oder auch verloren gegangen sind. Die Abdrücke sind aus natürlichem Wachs, und deshalb oft fragmentarisch oder abgenutzt erhalten, später aus mit anderen Substanzen gemischtem Wachs, die ihm mehr Festigkeit und auch eine spezielle Farbigkeit verliehen. Es warten noch sehr zahlreiche Siegel auf ihre Bearbeitung, geschätzt mehrere Zehntausend, und jede Mithilfe ist willkommen.
Der Vortrag vom 17. Januar 2024 konzentrierte sich auf die im Vergleich zu den bischöflichen Siegeln wenig untersuchten Siegel der Chorherren des Münsters. Ab dem Ende des 12. Jahrhunderts, mit der finanziellen Unabhängigkeit des Straßburger Domkapitels vom Bischof, legte sich die Einrichtung ein eigenes Siegel zu. Sie war in diesem Jahrhundert zu einem exklusiven „Club“ von Hochadeligen geworden, die aus vielen Teilen des HHR stammten. Ein solches Amt war sehr gefragt, da es eine sehr reiche Pfründe mit sich brachte. Der Straßburger Stadt- und der elsässische Landadel musste mit der Mitgliedschaft in den Kapiteln der Thomaskirche oder von Jung-Sank-Peter Vorlieb nehmen.
Die Siegelinhaber benutzten ihr Siegel zur Beglaubigung und Sicherung der schriftlichen Urkunden. Unterschriften wurden erst im 14. Jahrhundert gängig. In der ersten Hälfte des 13. Jhs. findet man im Elsass 37 Siegelabdrücke des Domkapitels auf Urkunden. Im Laufe desselben Jahrhunderts ließen dann immer mehr der 24 Chorherren persönliche Siegelstempel anfertigen. Ein Siegel zeigt in der Regel eine Kombination von Bild und Text, wobei die Inschrift eine zentrale Darstellung einrahmt. Die Form der Siegel war zunächst rund, dann im 13. und 14. Jahrhundert besonders für die kirchlichen Siegel mandelförmig. Dieses Format erleichtert eine Darstellung von stehenden Figuren. Die bildliche Darstellung in Kombination mit der Inschrift wird zu einem hochgeschätzten Mittel der Selbstdarstellung, zumal der Gebrauch eines Siegels zunächst auf die Herrscher, dann auf kirchliche Würdenträger (Bischöfe, Äbte), schließlich auf den Adel beschränkt war.
Zu den frühesten Straßburger Dokumenten zählt eine interessante Urkunde aus dem Jahre 1182, die die Siegel der drei Kapitel von Straßburg trägt. Um das Jahr 1250 herum häufen sich dann die erhaltenen Siegel, da generell immer mehr schriftliche Urkunden angefertigt wurden. Das erleichtert auch die Datierung der Siegel. Dokumentiert wurden bis jetzt 144 Abdrücke, von 75 Stempeln, die 54 Siegelinhaber repräsentieren. Im Straßburger Domkapitel hatten zu Beginn nicht alle Mitglieder ein eigenes Siegel, sondern vor allem diejenigen mit einem oder mehreren speziellen Ämtern, den sogenannten Dignitäten: der Probst, der Dechant, der Domscholaster, der Kantor usw. Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts hatten dann alle Domherren ihr Siegel. Manche Kapitulare hatten sogar zwei Siegel, wenn sie zwei Ämter bekleideten – so z.B. ein Mitglied der hochadeligen Familie von Ochsenstein.
Die Inschriften folgen immer demselben Schema: S. für „sigillum“ (Siegel), Name und Funktion. Die bildlichen Darstellungen jedoch wandeln sich im Laufe der Geschichte. Sehr geläufig ist zunächst die stehende Figur eines Kanonikers, mit Tonsur oder mit Kopfbedeckung, in der Hand ein Buch als Attribut der Gelehrsamkeit. Später ab ca. 1250 gibt es eine gewisse Vielfalt an Motiven: ein lesender Domherr im Profil, oder ein Kapitular als Lehrer (Scholaster), der mit einer Rute einem Schüler droht. Manche Domherren wählen Schutzheilige (Hl. Michael, Hl. Katharina), oder eine schematisierte Architekturdarstellung (das Münster). Häufigstes Motiv wird ‚Unsere Liebe Frau‘, der das Münster geweiht ist. Immer öfter treten dann horizontal zweigeteilte Darstellungen auf: Maria oben, das Familienwappen unten. So kombinieren die Domherren den Verweis auf ihr kirchliches Amt und auf ihre familiäre Identität. Letztere nimmt immer mehr die Überhand, sodass im 14. Jahrhundert reine Wappensiegel in der Mehrheit sind, die sich nicht von den Siegeln anderer Mitglieder derselben Familie unterschieden, die kein Kirchenamt bekleiden.
Inwiefern diese Variationen eine Spezifizität in der Diözese Straßburg darstellen, oder vergleichbare Entwicklungen auch anderswo au beobachten sind, muss noch untersucht werden. Auch inwiefern die Darstellungen etwa mit den Gewohnheiten der Goldschmiede zusammenhängen, die die Stempel herstellten. Auf jeden Fall handelt es sich um ein Thema von kulturhistorischer Relevanz.
Sabine Mohr
Ill.: © T. Brunner / © Y. Franchet