Ein Blick auf die Kathedrale zu Verdun

In den Kathedralen ist der Tod ein allgegenwärtiges Thema. So auch in der Kathedrale zu Verdun, in der dem Thema ein ganz besonderer Stellenwert haftet. Dort wird der Tod in drei Dimensionen betrachtet, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbinden.

Zunächst also die Vergangenheit. Im Mittelschiff hat ein Kirchenfenster meine Aufmerksamkeit besonders auf sich gezogen. Betrachten Sie es ganz genau. Was sehen Sie dort? Es bildet eine Szene dar, die durch Ausstattung und reiche Farben auf ein sehr wohlhabendes Milieu hindeutet. Zwei Personen, deren Kronen auf eine zumindest fürstliche Herkunft schließen lassen, lehnen sich an einen Tisch mit reich verzierter Tischdecke und goldenem Geschirr. Der Mann ist älter als die Frau. Im Vordergrund wirbelt eine Tänzerin mit schlanker, schmaler Taille zum Vergnügen der Gäste. Sie dreht und wendet sich, wobei ihr Kleid durch ihre Bewegungen reiche Falten wirft. Ihre schlanken Arme muten eine gekonnte, ja professionelle Geste an. Ein Hund begleitet sie, ebenfalls tanzend, auf den Vorderpfoten gestützt und den Hinterteil nach oben gestreckt. Eine königliche Hochzeit? Ein mittelalterliches Festmahl? Alles zeugt von Luxus und Genuss. Dennoch… Es handelt sich um ein Abendessen, das Herodes „für die Großen, für die Offiziere und die Honoratioren Galiläas“ veranstaltet. Er sitzt neben Herodias, deren Tochter in ihren schönsten Kleidern tanzt. Es wird nicht lange dauern, bis sie von ihm den Kopf Johannes des Täufers verlangt, was im oberen Fenster zu sehen ist.

Nun zur Gegenwart, oder so in etwa. Die Krypta von Verdun – wie so oft in den Kathedralen – regt großes Interesse bei den Besuchern der Kathedrale. Allerdings geschieht dies aus recht unerwarteten künstlerischen Gründen. Beinahe wäre sie nach einem Brand, der das Gebäude 1755 zerstörte, für immer verloren gewesen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie wiederentdeckt, als man das von Deutschen Bomben stark beschädigte Gebäude restaurieren musste. Zu Ehren derer, die zu tausenden im Krieg gefallen waren, stellen die Säulen der Krypta besonders bewegende Episoden dar, die auf die tragischen Ereignisse der Schlacht von Verdun im Jahr 1916 anspielen. Die Skulpturen, die sie schmücken, zeigen Kanonen, Soldaten in den Schützengräben, behelmte Poilus, deren Augen mit Brillen maskiert sind, die sie vor tödlichen Gasen schützen sollen. Totenköpfe und ineinander verschlungene Knochen erinnern an das riesige Beinhaus der Stadt. Eher unerwartet ist auch eine Taube abgebildet. Sie erinnert an die Brieftauben und deren wohlbekannten Rolle beim Überbringen von Nachrichten von einem Posten zum anderen.

Letztlich auch zur Zukunft. Nach der christlichen Eschatologie wird jeder Körper auferstehen, und sei er auch schon lange zu Staub und Asche geworden. Dieser Glaube wird in eine Reihe von acht kleinen Zeichnungen auf dem der doppelten Bogen der Krypta dargestellt. Ganz in der Nähe bläst ein Engel die Trompete, bei deren Klang sich die Toten erheben und aus ihren Gräbern aufstehen. Die drei hier sichtbaren Szenen zeigen Männer und Frauen stehend, einige mit gefalteten Händen. Schweift der Blick von unten nach oben, stellt der Betrachter fest, dass die Auferstandenen nach und nach ihre Bekleidung ablegen: Sie setzen sich in dem ursprünglichen Zustand zurück, in dem sie geschaffen wurden. Sie entblößen sich vor dem Herrn, der sie auf Herzen und Nieren prüfen wird. Durch die Vielfalt der dargestellten Szenen – mal unerwartet, mal bewegend, aber immer schön – halten uns die Kathedralen immer wieder fest in ihren Bann.

Francis Klakocer
Übersetzung: Stéphanie Wintzerith

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