Die Reise in die Normandie hat bestätigt, dass man in Frankreich nicht nur französisch sein kann: So bekennt sich Rouen zu seiner Wikinger-Vergangenheit und schwört der angelsächsischen Welt durch Wilhelm den Eroberer bereitwillig die Treue. Der Wandteppich von Bayeux zeigt jedoch seinen Rivalen Harold, zuerst lebendig, dann tot. Der etwas vereinfachte und zu schnell präsentierte chronologische Ablauf, der uns bei unserem Besuch vortragen wurde, konnte die Begeisterung nicht mindern, die man angesichts der Feinheit der Stickerei empfindet und die kein Foto wiedergeben kann. Mehr noch, sie hat eine epische Dimension in der Vielzahl der Schiffe, Pferde und Bogenschützen.
Der Wandteppich war ständig in der Kathedrale von Bayeux ausgestellt und weckte seit dem 18. Jahrhundert das Interesse von Historikern und Malern. In diesem majestätischen, lichtdurchfluteten Kirchenraum dominieren die großen Pfeiler des Langhauses mit ihrer scheinbaren Einfachheit der Linien, die durch die Üppigkeit der Zwickelfelder korrigiert wird. Die gotische Umformung der alten romanischen Kirche, die im Chor sichtbar wird, ist auch an der Westfassade und den beiden Türmen zu erkennen. Zusammen mit dem Kapitelsaal wurde uns der älteste Teil des Baukomplexes, die von den Protestanten zerstörte Bibliothek und der den Revolutionären entgangene Kirchenschatz geöffnet. Wir wurden mehrfach darauf hingewiesen, dass die Normandie Opfer der einen und der anderen Seite geworden ist.
Der Vortag war Rouen gewidmet, einer wunderschönen Stadt mit einer reichen mittelalterlichen und neuzeitlichen Vergangenheit, die durch die hohen Häuser mit vertikalen Giebeln, die mit Schieferschindeln nach alter Technik verkleidet sind, gut veranschaulicht wird. Die Besichtigung begann mit der wunderschönen Abteikirche St-Ouen, die etwas länger und höher als die Kathedrale ist. Das Kirchenschiff öffnet sich durch riesige, auf wundersame Weise erhaltene Fenster zu einem Lichtschacht. Die große Orgel aus dem 17. Jahrhundert drängt sich sofort auf: Sie wurde von Cavaillé-Coll restauriert und ist den großen Solisten wohlbekannt. Alles atmet Harmonie in der Überlagerung von Spätgotik und klassizistischen Formen. Schließlich hat das Marmousets-Portal lange die Aufmerksamkeit der Liebhaber von Vierpassformen auf sich gezogen. In einer ganz anderen Perspektive wartete draußen die Kopie eines großen Runensteins aus Oslo auf uns. Immer wieder diese Wikinger!
Zugegeben, die Kirche St-Maclou leidet ein wenig unter dem Vergleich mit der Abteikirche St-Ouen, trotz ihrer außergewöhnlichen konvexen Fassade und den Renaissanceflügeln: ein homogenes Beispiel für die Flamboyant-Gotik. Auch das Orgelgehäuse zeugt von einer besonderen Beziehung zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert.
Die Kathedrale unterscheidet sich von allen anderen Kirchen durch ihre feingliedrig verzierte Fassade. Das Kirchenschiff mit seinen sehr klaren Arkaden hebt sich von dem späteren Chor ab. Es ist mit Glasmalereien aus dem 13. und 16. Jahrhundert ausgestattet. Nachdem wir die Vierung mit ihrem außergewöhnlichen Vierungsturm passiert hatten, verließen wir das Gebäude durch den Kanonikergang (Passage des chanoines) und das Buchhändler-Portal (Portal des libraires), wo uns zahlreiche Vierpässe erwarteten!
Nach dem Parlamentsgebäude, dem prächtigen Renaissancepalast der normanischen Regionalverwalter, hatten wir über den Umweg die Astronomische Uhr („Gros-Horloge“, mit nur einem Zeiger für die Stunden) ein Rendezvous mit Johanna von Orléans (frz. Jeanne d’Arc). Auf dem berühmten Marktplatz steht ein riesiges Kreuz und eine ebenso riesige zeitgenössische Kirche, die man jedoch wegen der alten Glasfenster, die dort eingebaut wurden, besichtigen musste.
Am Donnerstag offenbarte sich uns die Stadt Fécamp in einer Regenflut. In diesem ehemaligen Sumpfgebiet hatte sich Wilhelm der Eroberer niedergelassen, neben dem Kloster der Heiligen Dreifaltigkeit, das im Laufe der Jahrhunderte zur größten Abtei Frankreichs wurde (manche nennen Jumièges als Vorbild). Auf den ersten Blick sieht man nur die Fenster und die hohen Arkaden, da die aufeinanderfolgenden Gebäude geschickt ineinander verschachtelt sind. Dadurch entsteht ein Eindruck von Ruhe und Harmonie. Die Barockzeit war einst auch vertreten, mit einem monumentalen Lettner, der eines nachts von einem revolutionären Pfarrer, der den überschwänglichen Katholizismus ablehnte, entfernt wurde.
Voller Sonnenschein am Freitag für Château-Gaillard, eine außergewöhnliche Festung, die von Richard Löwenherz entworfen wurde, um sich gegen den französischen König zu verteidigen und ihm den Weg nach Rouen zu versperren – einzigartig in ihrer Art und wunderbar erhalten. Die Vorstellungskraft kann nach Belieben das Leben von hundert Verteidigern im uneinnehmbaren Bergfried und dem hungrigen Volk im unteren Hof nachvollziehen und schließlich den Einfall der Schergen von Philippe-Auguste durch die äußere Kapelle.
Der Tag endete bei Claude Monet in Giverny, in dem von ihm angelegten großen Garten, der von einer Horde gleichgültiger und lärmender Touristen überrannt wurde. Die ausgezeichnete Museumsführerin hingegen stellte den Maler in den Kontext eines neu interpretierten Impressionismus, der sich auf Japan konzentrierte, das Monet so gut kannte. Glücklicherweise war die Ausstellung des zeitgenössischen Malers Hiramatsu damit verbunden.
Sind Mahlzeiten Teil der kulturellen Aktivitäten? Das Gastmahl auf der Rückfahrt in Verdun wird im Gedächtnis bleiben (mit den Orchideen als Anspielung auf Monet). Die Kathedrale von Verdun brachte die Mägen jedoch schnell wieder zur Vernunft. Begonnen im 10. Jahrhundert, ist der auf einer berühmten Pilgerroute liegende Bau heute die älteste gotische Kathedrale Frankreichs. Bemerkenswert ist die Verdoppelung der Chöre, Querschiffe und Krypten, vor allem aber der riesige Altarbaldachin, eine getreue Kopie des Altarhimmels von Bernini in Rom. Er wird bei einer nächsten Reise bestimmt wieder besucht!
Marielle Popin
Übersetztung: Sabine Bengel
Ill. : Stickerei von Bayeux, Saint-Ouen von Rouen, Abtei der Dreifaltigkeit von Fécamp